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Zeit der Reife: Lyrik und Drama.
und taumeln aus ihren Luken zackig in das offne Auge des Tages hinein.
Die Dohlen hören es mit Entsetzen; das Menschenkind unten auf der
festen Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben am Himmel ziehen gleich¬
mütig darüber hin. Lange währt das Pochen, dann verstummt es. Und
5 den Rüst stanzen nach und quer auf ihnen liegend, schieben sich zwei, drei
kurze Bretter. Hinter ihnen erscheint ein Menschenhaupt und ein paar
rüstige Arme. Eine Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬
schwungnem Hammer, bis die Bretter fest aufgenagelt sind. Die fliegende
Rüstung ist fertig. So nennt sie ihr Baumeister, dem sie eine Brücke
10 zum Himmel werden kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüstung
baut sich nun die Leiter und, ist das Turmdach sehr hoch, Leiter auf Leiter.
Nichts hält sie zusammen als der eiserne Längehaken, nichts hält sie fest
als auf der Rüstchng vier Männerhände und oben die Helmstange, an der
sie lehnt. Ist sie einmal an der Ausfahrtür und an der Helmstange mit
i5 starken Tauen angebunden, dann sieht der kühne Schieferdecker keine Ge¬
fahr mehr in ihrem Besteigen, so weh dem schwindelnden Menschenkinde
tief unten auf der sichern Erde wird, wenn es herausschaut und meint,
die Leiter sei aus leichten Spänen zusammengeleimt wie ein Weihnachts¬
spielwerk für Kinder. Aber ehe er die Leiter angebunden hat — und um
20 das zu tun, muß er erst einmal hinaufgestiegen sein —, mag er seine arme
Seele Gott befehlen. Dann ist er erst recht zwischen Himmel und Erde.
Er weiß, die leichteste Verschiebung der Leiter — und ein einziger falscher
Tritt kann sie verschieben — stürzt ihn rettungslos hinab in den sichern
Tod. Haltet den Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn er-
25 schrecken!
Die Zuschauer unten tief auf der Erde falten atemlos unwillkürlich
die Hände; die Dohlen, die der Steiger von ihrem letzten Zufluchtsorte
verscheucht, krächzen wildflatternd um sein Haupt; nur die Wolken am
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin. Nur die Wolken?
so Nein. Der kühne Mann auf der Leiter geht so unberührt wie sie. Er ist
kein eitler Wagling, der frevelnd von sich reden machen will; er geht
seinen gefährlichen Pfad in seinem Berufe. Er weiß, die Leiter ist fest;
er selbst hat das fliegende Gerüst gebaut, er weiß, es ist fest; er weiß,
sein Herz ist stark und sein Tritt ist sicher. Er sieht nicht hinab, wo die
35 Erde mit grünen Armen lockt, er sieht nicht hinauf, wo vom Zug der
Wolken am Himmel der tödliche Schwindel herabtaumeln kann auf sein
festes Auge. Die Mitte der Sprossen ist die Bahn seines Blickes, und
oben steht er^ Es gibt keinen Himmel und keine Erde für ihn, als die
Helmstange und die Leiter, die er mit seinem Tau zusammenknüpft. Der
40 Knoten ist geschlungen; die Zuschauer atmen auf und rühmen auf allen
Straßen den kühnen Mann und sein Tun hoch oben zwischen Himmel
und Erde. Schieferdecker spielen die Kinder der Stadt eine ganze Woche
lang.
Aber der kühne Mann beginnt nun erst sein Werk. Er holt ein andres
55 Tau herauf und legt es als drehbaren Ring unter dem Turmknopf um