Full text: Geschichtliches Lesebuch

würde; sie war entschlossen, das Größte zu tun, wollte aber nicht 
mehr versprechen, als was sie sicher leisten konnte. Zar Alexander 
dagegen schätzte seine Feldarmee fast auf das Vierfache ihrer wirklichen 
Stärke, teils weil er als die führende Macht der Koalition erscheinen 
wollte, teils weil er sich in seinem Stolze selbst täuschte. Preußen 
leistete von vornherein mehr, als der Vertrag verlangte; Rußlands 
Feldarmee erreichte erst gegen den Herbst die vertragsmäßige Stärke. 
Hardenberg, der preußische Staatskanzler, legte beim Abschluß der 
Verhandlungen geringen Wert auf jene Zahlen; doch bei den späteren 
Verträgen mit England bildeten sie den Maßstab für die englischen 
Unterstützungsgelder. Daher hat die niedrige Zahl der preußischen 
Streitkräfte der Staatskasse Preußens großen Schaden gebracht, und 
die Welt mußte glauben, daß die Preußen nur die Hilfesuchenden 
seien, während sie in Wahrheit die Hilfe leisteten. 
Am 15. März zog Kaiser Alexander unter dem Jubel des Volkes 
in Breslau ein. Am nächsten Tage schickte der Staatskanzler der 
französischen Regierung ein Schreiben, welches in gedrängten Zügen 
zusammenfaßte, was Preußen seit Tilsit erlitten, und den Bund mit 
Rußland, sowie den Entschluß zum Kriege verkündete. 
Am 17. März wandte sich Friedrich Wilhelm in einem Aufrufe 
an sein Volk. Derselbe lautet wie folgt: „So wenig für mein treues 
Volk als für Deutsche bedarf es einer Rechenschaft über die Ursachen 
des Krieges, welcher jetzt beginnt; klar liegen sie dem unverblendeten 
Europa vor Augen. Wir erlagen unter der Übermacht Frankreichs. 
Der Friede, der die Hälfte meiner Untertanen mir entriß, gab uns 
seine Segnungen nicht; denn er schlug uns tiefere Wunden, als selbst 
der Krieg. Das Mark des Landes ward ausgesogen. Die Hauptfestungen 
blieben vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt, so wie der 
sonst so hoch gebrachte Kunstfleiß unserer Städte. Die Freiheit des 
Handels ward gehemmt, und dadurch die Quelle des Erwerbes und 
des Wohlstandes verstopft. Das Land ward ein Raub der Verarmung. 
Durch die strengste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte 
ich meinem Volke Erleichterung zu verschaffen und den französischen 
Kaiser endlich zu überzeugen, daß es sein eigener Vorteil sei, Preußen 
seine Unabhängigkeit zu lassen. Aber meine reinsten Absichten wurden 
durch Übermut und Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen 
wir, daß des Kaisers Verträge mehr noch wie seine Kriege uns langsam 
verderben mußten. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle 
Täuschung über unsern Zustand schwindet. Brandenburger, Preußen, 
Schlesier, Pommern, Litauer 1 ihr wißt, was ihr seit sieben Jahren 
erduldet habt; ihr wißt was euer trauriges Los ist, wenn wir den 
beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an die 
Vorzeit, an den großen Kurfürsten, an den großen Friedrich! Bleibet 
eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig er¬ 
kämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß 
und Wissenschaft! Gedenket des großen Beispiels unserer mächtigen 
Verbündeten, gedenket der Spanier und der Portugiesen! Selbst kleine 
Völker sind für gleiche Güter gegen mächtigere Feinde in den Kampf 
gezogen und haben den Sieg errungen: erinnert euch an die helden-
	        
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