Object: Prosaband (Teil 9, [Schülerband])

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ländische Kunst geschulten Partei erhob. Man ging so weit, zu be¬ 
haupten, das Jesuskind sei gemeine Natur, und die Engel unten habe 
ein Zchüler hineingemalt. Noch im neunzehnten Jahrhundert konnte 
in Dresden so gesprochen werden, einer der auffallendsten Beweise 
für die Wahrheit, daß zum Verständnis und Genusse auch des herr¬ 
lichsten die Menschheit erst erzogen werden müsse. Bei der Musik sehen 
wir das am deutlichsten, heute bewundert jeder die Madonna, wie 
man Beethoven bewundert. Dies Gefühl aber wird besonders von 
Protestanten repräsentiert, die nur die Zchönheit des Werkes emp¬ 
finden. Naffael aber hatte ein Kultusbild in ihm geliefert und zu¬ 
gleich doch das geschaffen, was jedem Menschen nahe treten mußte. 
Die Mütter derer, die wir verehren, sind allen Menschen ja verehrungs¬ 
würdig, und die Mutter Ehristi steht als seine Mutter dicht neben ihm. 
Naffaels Madonnen sind keine Italienerinnen, sondern Frauen, 
die sich über das Nationale erheben. Lionardos, Eorreggios, Tizians, 
Murillos, Nubens' Madonnen tragen irgendwie einen Bnflug italieni¬ 
schen, spanischen, flamländischen Wesens: Naffael allein hat seinen 
Madonnen die allgemein menschliche Schönheit, die den europäischen 
Völkern anderen Nassen gegenüber als Gemeingut eigen ist, verliehen. 
Zeine Zistinische Madonna schwebt auch als ein Ideal deutscher weib¬ 
licher Zchönheit über uns, und wunderbar: trotz dieser Allgemeinheit 
wird sie jedem individuell erscheinen, als sei, aus besonderer Verwandt¬ 
schaft heraus, gerade ihm das Vorrecht verliehen, sie ganz zu be¬ 
greifen. Dasselbe Gefühl flößen Zhakespeares und Goethes Frauen¬ 
gestalten uns ein. 
Kaum wird unter den Gebildeten jemand heute leben, dem die 
Zistinische Madonna nicht in irgendeiner Gestalt vor Bugen getreten 
sei, und in dem ihr Anblick nicht ein Gefühl dessen erweckt hätte, was 
Goethe allein mit dem Worte des „Ewigweiblichen" bezeichnen konnte. 
Dies ist oft ausgesprochen worden. 
Die Zistinische Madonna gehört ins Jahr 1715. Zeichnungen 
für sie sind nicht vorhanden. Daher die Meinung, Naffael habe sie 
ohne Studien rasch in einem Zuge vollendet. Sie ist, unähnlich seinen 
übrigen Werken, auf Leinwand gemalt, und Numohr hat die Ver¬ 
mutung daran geknüpft, sie habe als Prozessionsfahne dienen sollen. 
herman Grimm. 
28. Schlüters Großer Rurfürst. 
In die ersten Jahre von Zchlüters Aufenthalt in Berlin fällt die 
Durchführung seines größten und besten Werkes, des Standbildes des 
Großen Kurfürsten. Zeine Ausführung bildete eine Ergänzung von 
Dunkelmanns politischem System der bewußten Fortbildung der von 
Friedrich Wilhelm dem Ztaat gegebenen Richtung- sie ist ein Fort-
	        
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