Full text: Deutsche Sozialgeschichte

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1870. 
Reichs¬ 
verfassung 
und ihre Frei¬ 
heitsrechte. 
gebung für den norddeutschen Bund mit; und als dann 1870 Preus¬ 
sen seinen „wunderbaren Speer, der zugleich heilt und verwundet", 
gegen Frankreich richten mußte, da schloß sich das übrige Deutsch¬ 
land mit einer Einmütigkeit an, wie sie seit Bestehen der deutschen 
Nation nicht erlebt war. Nord- und Süddeutsche fochten jetzt 
Schulter an Schulter. Der Anteil aller Volksklafsen am Kampfe 
selbst bewegte, sich (im Unterschied vom Völkerfrühling 1813) in den 
streng bemessenen Formen der allgemeinen Wehrpflicht. Aber alle 
Stände und Klassen waren im Heere vertreten, und ihre freiwillige 
Opferfreudigkeit erleichterte den Kamps. Die nationale Kraft ward 
herrlich entfesselt, die Stärke des alten deutschen Sondertums so gut 
wie überwunden. „Jeder Deutsche hat mit auf den Amboß ge¬ 
schlagen, auf dem die deutsche Einheit geschmiedet ward", sagte 
Bismarck. Aber er, der größte deutsche Edelmann, mußte doch das 
Beste thun, damit das bürgerliche Ideal eines einigen, freien Deutsch¬ 
lands endlich erfüllt würde. Die öffentliche Meinung war die trei¬ 
bende Kraft zur Wiederaufrichtung des deutschen Reiches; die be¬ 
sondere Art und Weise aber, in der sie vor sich ging, ist Bismarcks 
Werk. 
Mit seiner genialen Staatskunst der That wirkte die ebenso 
meisterhafte Kriegskunst M o l t ke s zusammen. Der, welcher das preus¬ 
sische Schwert geschärft, der dritte der Paladine des edlen, neidlos 
und bescheiden anderer Verdienste würdigenden Kaisers Wilhelm I., 
der Kriegsminister Noort, schrieb noch auf französischem Boden, mit 
dem errungenen Siege müsse „eine neue Ära — wie sie es nennen — 
freiheitlicher Entwicklung" anheben. In der Verfassung des deutschen 
Reiches, die keine besonderen Stände kennt, ward der alte Gegensatz 
zwischen Absolutismus und Parlamentarismus versöhnt. Allen 
Deutschen gewährleistete sie Gleichheit vor dem Gesetze, Schutz der 
persönlichen Freiheit (nur kraft richterlichen Befehls kann eine Ver¬ 
haftung erfolgen) und des religiösen Bekenntnisses, Freiheit der
	        
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