Full text: Lehrbuch zur Kenntniß der verschiedenen Gattungen der Poesie und Prosa für das weibliche Geschlecht, besonders für höhere Töchterschulen

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Schwierigkeiten ankämpfen. Diese Schmierigkeiten können ent¬ 
weder die Leidenschaften und die Bosheit andrer Menschen, oder 
die Feindseligkeit überirdischer Wesen, oder ein unabänderliches 
Schicksal, oder seine eigenen Leidenschaften, oder auch mehreres 
von diesen zugleich sein. Während des Kampfes zwischen dem 
Helden und seinen Gegern muß der Ausgang unentschieden blei¬ 
ben, weil das Interesse wegsallen würde, wenn man im Voraus 
wüßte, wer siegen, oder wer unterliegen würde. Zuletzt aber muß 
der Held siegreich aus dem Kampfe hervorgehen, oder, wenn er 
unterliegt, so muß er selbst besiegt noch Bewunderung erregen. 
Soll aber der Held Bewunderung und Jnteresie erregen, so ist 
dazu Körperkraft und Verstand nicht hinreichend; er kann unsre 
Achtung und Theilnahme nur dann gewinnen, wenn er sittlich-groß 
ist. Läßt ihn der Dichter daher auch Fehler begehen, so müßen sie 
doch vor dem Glanze seiner Tugenden in den Hintergrund treten. 
Es hängt vom Dichter ab, ob er einen geschichtlichen Helden 
oder einen erdachten, ob er das Wunderbare, die Theilnahme der 
Gottheit und anderer überirdischen Wesen zu Hilfe nehmen will 
oder nicht. Mit Recht verlangt man aber von ihm, daß er Ein¬ 
heit der Person und d'er Handlung beobachte, d. h. daß 
der Held immer die Hauptperson bleibe, daß er alle Nebenpersonen 
an Größe der Seele überrage, und daß alle Nebenerzählungen 
aus ihn Bezug haben. Solche Nebenerzählungen, die zwar ein 
Ganzes für sich ausmachen, aber doch mit der Haupthandlung 
in Verbindung stehen müssen, werden Episoden genannt. 
Das Heldengedicht hat eine ernste, würdevolle Sprache. Es 
zerfällt, seines größeren Umfangs wegen, in mehrere Gesänge, 
und fängt in der Regel mit Anrufung einer Muse oder einer 
andern Gottheit an, um den Leser auf die Wichtigkeit des zu 
besingenden Helden aufmerksam zu machen. 
Man theilt das ernste Heldengedicht ein in: 
1. Das eigentliche Heldengedicht oder Epos. Der 
Vortrag ist durchaus ernst und würdevoll; denn der Held erscheint 
höher, idealischer, als man ihn in der Wirklichkeit stnden kann. 
Dahin gehören z. B. die Epopöen der alten Griechen und Römer: 
die Jliade und Odyssee von Homer, die Aeneide von Virgil, und 
aus der neuern deutschen Literatur: der Messias von Klopstock, 
die Noachide von Bodmer, nebst wenigen andern. 
Literaturgesch. v. Nösselt. I. 6. Aufl. 
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