Full text: Die Weltgeschichte in Uebersichten und Schilderungen der wichtigsten Begebenheiten vom Wiener Congreß bis zur Wiederherstellung des deutschen Kaiserreichs (Bd. 4)

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verkannte, selbst seine Ansichten fanden nur zu oft herbe Beur¬ 
theilung, weil sie Vielen zu romantisch zu sein schienen. Er ver¬ 
wahrte sich „gegen den verneinenden Geist der Zeit und verlangte 
den der Ordnung und Zucht", und versicherte, daß „es keiner 
Macht der Erde gelingen solle, das Verhältniß zwischen Valk und 
Fürsten in ein constitutionelles umzuwandeln, zwischen Gott im 
Himmel und das Land ein geschriebenes Blatt als zweite Vor¬ 
sehung einzudrängen." Denn sein Wahlspruch sei: „Ich und 
mein Haus^ wollen dem Herrn dienen." Die Stände fühlten, 
daß der König von Herzen spreche, aber die kirchlichen und po¬ 
litischen Aufregungen, welche seine Minister hervorgerufen hatten, 
als ob das Land der persönlichen Ueberzeugung der Minister un¬ 
bedingt folgen müsse, riefen allgemeine Unzufriedenheit mit der 
Ministerwillkür hervor, gegen welche sich auch der Reichstag mit 
rückhallsloser Mißbilligung aussprach. Die Stände waren zum 
Aeußersten entschlossen, und wollten „nur der Gewalt der Bajonette 
weichen"; Manche wollten sofort wieder abreisen. Da entschloß man 
sich, in einer Adresse dem Könige die Gebrechen des Staates „ehr¬ 
erbietig" darzulegen. Es gab dabei scharfe Debatten, aber die Minister 
konnten nicht Stand halten gegen die Wucht der Thatsachen. Man 
verlangte ein „neues, verjüngtes Preußen, welches in der Frei¬ 
heit eine Stütze finde und, getragen von der Sympathie der 
deutschen Bruderstaaten, das deutsche Volk zu der Stufe hinan¬ 
führe, die ihm unter den Kulturvölkern der Erde gebührt." Die 
Adresse, eine Verurtheilung der Minister, ward mit großer Mehr¬ 
zahl, 484 gegen 107 Stimmen angenommen und überreicht, hier¬ 
auf Anordnungen gegen die Tumulte getroffen, die in Folge der 
Brodtheuerung überall ausbrachen, alle Vorlagen der Minister 
abgelehnt, regelmäßige Einberufung der vereinigten Landstände 
verlangt und die Gegenbemerkungen Savigny's und Bismark's 
nicht beachtet, welche dem fürstlichen Absolutismus das Wort 
redeten. 
Der König, in seiner gerechten Denkungsweise, empfand wohl 
die Wahrheit der gestellten Anträge des Reichstags und sah so¬ 
gleich, daß die Wurzel des Uebels in dem Bundestage liege, 
dessen Umgestaltung er daher anstrebte. Radowitz verfaßte nun 
eine Denkschrift, in welcher er ausführte, daß der Bundestag seit 
32 Jahren nichts gethan habe. „Die gewaltigste Kraft der 
Gegenwart ist aber die Nationalität. Durch alle Gemüther zieht 
die Sehnsucht nach einem an innerer Gemeinschaft wachsenden 
Deutschland, das, nach außen mächtig und geehrt, nach innen ein¬ 
trächtig sei. Dies ist der populärste und gewaltigste Gedanke in 
unserm Volke. Preußen kann nur in der festesten, innigsten Ver¬ 
bindung mit dem übrigen Deutschland die Ergänzung der eignen 
Kraft finden. Für Preußen ist es eine Lebensfrage, daß Deutsch-
	        
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