Full text: Für die unteren Klassen (Bd. 1, [Schülerband])

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am Abend heimkam, die Bürde nassen Leinens auf ihren Schultern, 
dann begegnete ihr Gerlinde mit Scheltworten und Schlägen. So kehrte 
sie Abend für Abend zerschlagen in ihre stille Kammer zurück, um 
da in Tränen ihrem Herzen Luft zu machen. Doch wie sehr sich auch 
die Demütigungen und Mißhandlungen mehrten und steigerten, wie 
schwer es auch war. die immer wiederkehrende Unbill zu tragen: die 
Hoffnung auf Erlösung ließ sie nicht zuschanden werden, und Gudruns 
Treue wankte nicht. 
8. Die Rettung naht. 
Inzwischen war das junge Geschlecht im Lande der Hegelingen 
herangewachsen, und auf Hildens Betreiben wurde ein großes Heer zur 
Rache gerüstet. Auf der Fahrt nach der Normandie hatte es zwar 
mancherlei Gefahren zu bestehen, gelangte aber zuletzt doch glücklich 
ans Ziel der Reise. Nachdem die Recken sich dort in einem Walde 
gelagert und von einem Baume aus das Land ringsumher durchspäht 
hatten, überließen sie sich der Ruhe. Andern Tages, als die Sonne 
niedersank, gingen Ortwin und Herwig, der Bruder und der Verlobte 
der Gudrun, aus, um Kundschaft über diese einzuziehen. Sie war 
schon darauf vorbereitet worden, daß ihr etwas Liebes begegnen würde. 
Als sie mit ihrer Freundin Hildeburg am Strande wusch, erschien ihr 
ein Engel in Vogelgestalt, um sie auf ihre Erlösung vorzubereiten. 
Er redete sie an, teilte ihr die Ankunft des Heeres mit und verhieß 
ihr das Erscheinen zweier Boten als Wahrzeichen. Die Freude war 
groß; den ganzen Tag unterhielten sie sich von den Lieben in der 
Heimat, und obwohl sie abends bei der Heimkehr von Gerlinden mit 
grimmigen Scheltworten empfangen, ihnen auch aufgegeben wurde, 
am nächsten Tage in aller Frühe an dasselbe Tagewerk zu gehen, 
damit für die erwarteten Gäste alles vorbereitet sei, so legten sich 
die Heimatlosen doch getrost nieder und vergaßen ihr Leid. 
9. Gudruns Befreiung. 
Während der Nacht war tiefer Schnee gefallen; denn es war 
Winter, gegen Ostern. Dennoch mußten die Gequälten mit nackten 
Füßen durch den Schnee waten und in Kälte und Windesbraus am 
Strande waschen. Beständig warfen sie über die öde Flut sehnsüchtige 
Blicke, ob die rettenden Boten nicht kämen, bis dann endlich die Barke 
erschien, auf der Herwig und Ortwin ihnen nahten. Nachdem sie sich 
wiedererkannt und einige Zeit unterhalten hatten, fuhren die beiden 
Recken wieder ab, ohne die Jungfrauen mitzunehmen; denn die man
	        
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