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Hier sah Hermoder nun Baldur und Nanna unter einer
Felshatte sitzen und begrüßte sie. In einer anderen großen,
von trübem Lichte beleuchteten Halle gewahrte er die entsetz¬
liche Todesgöttin. Sie empfing ihn freundlich und lud ihn
ein, die Nackt da zu bleiben. Am anderen Morgen brachte
nun Hermoder seine Bitte vor, aber Hela antwortete grinsend:
„Ist Baldur wirklich so allgemein beliebt, wie du mir sagst,
daß alle lebenden uttD leblosen Wesen um ihn weinen und ihn
zurilckbegehren, wohlan! so kehre er nach Walhalla zurück.
Ist aber nur ein einziges Ding vorhanden, und sei es auch
nur das allergeringste und unbedeutendste auf der ganzen
Welt, das ihn nicht beweint, so bleibe er in Helheim." Mit
diesem Bescheid kehrte nun der Bote zu den Göttern zurück.
Diese sandten hocherfreut Boten in alle Welten ans und
ließen alle Dinge und Wesen auffordern, den göttlichen Bal¬
dur zu beweinen. Alles, was da lebte und nicht lebte, Men¬
schen und Tiere, alle Pflanzen, ja, Erde und Steine schluchzten,
weinten und schwitzten bittere Thränen. Aber in einer ein¬
samen Höhle fanden die Boten ein altes Weib, das sich
Thöck nannte. Als sie zum Weinen aufgefordert ward,
antwortete sie gleichgültig: „Thock wird nicht weinen über
Baldur, denn weder im Leben noch im Tode hatte sie Nutzen
von ihm. Was Hela besitzt, möge Hela behalten." Vergebens
baten die Gesandten noch lange die Thöck um Mitleid; sie
mußten endlich trostlos von bannen ziehen.
Da erheb sich plötzlich ein gewaltiger Sturm, bie Erbe
erbebte, unb ber Donner hallte schrecklich an beit Felsen
wieder. Obiu's gewaltige Stimme schallte weit über Sturm
unb Donner hinaus, als er dem Weibe zurief: „Ich habe
alle deine Missethaten erwogen, und bald ist dein Maß voll;
vergiß nicht, daß Odin dich kennt!"
Das Weib aber, das ganz allein nicht um den guten
Baldur weinen wollte, war der abscheuliche Loki gewesen.
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