Full text: Lebensbilder aus der deutschen Götter- und Heldensage

In der Zeit, wo wir Fastnacht feiern, und die Abende so 
kurz werden, daß die Frauen nicht mehr zu spinnen pflegen, 
zog früher die Göttin durch's Land und sah überall nach, 
ob auch aller Flachs während der langen Winterabende 
von den Frauen und Mädchen gesponnen worden war. Wenn 
sie in ein Haus kam, wo die Frauen und Mädchen fleißig 
gewesen waren und alle Rocken leer gesponnen hatten, da 
segnete sie das Haus und schenkte den Frauen zuweilen 
Spindeln, die, wenn man sie abhaspelte, niemals leer wurden 
und auf diese Weise ihre Besitzerinnen reich machten. Fand 
sie aber um diese Zeit in einem Hause noch ungesponnenen 
Flachs, so zündete sie denselben an und wünschte den faulen 
Besitzerinnen ein böses Jahr. Die fleißigen Spinnerinnen 
bekamen dann im folgenden Sommer schönen, langen und 
weichen Flachs, denn Frau Holda segnete ihre Felder; aber 
die faulen bekamen zur Strafe nur schlechten, kurzen und 
harten Flachs, der schlecht zu spinnen war und auch nicht 
viel taugte. Ihr Lieblingsbaum war die Linde, in deren 
Schatten sie oft Rast hielt, uud wenn am Abend die Jüng¬ 
linge und Jungfrauen eines Dorfes unter derselben zusammen 
kamen, dann mischte sich Frau Holda ungesehen unter sie und 
nahm teil an ihren Vergnügungen. Als ihren Aufenthalt 
dachte man sich entweder tiefe See'n und Brunnen, oder auch 
finstere Gebirge. So hatte sie auch eine Wohnung im Khff- 
hänserberge in Thüringen. Hier sitzt ein alter deutscher 
Kaiser, der Rotbart genannt, schon viele, viele Jahre ver¬ 
zaubert, und Frau Holda ist seine Kellermeisterin. Alle hun¬ 
dert Jahre wacht der alte Kaiser mit seinen Kriegshelden 
auf, und dann bringt die Göttin den alten Helden den köst¬ 
lichsten Wein aus dem tiefen Keller des Schlosses. Armen, 
aber fleißigen Leuten giebt sie zuweilen von dem schönen 
Wein ans ihrem Keller. So lebte einmal ein armer, aber 
sehr braver Arbeitsmann in einem Dorfe am Fuße des
	        
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