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der Graf Dunois machte, die halb verhungerten Einwohner von 
Orleans mit Lebensmitteln zu versehen. Ein Haufen Soldaten war 
versammelt, den Zug nach Orleans zu beschützen. Vorher befahl 
die Jungfrau, daß alle Soldaten beichten müßten; dann führte sie 
Zucht und Ordnung wiever ein. Jetzt schrieb sie an die Anführer 
der Engländer, die vor Orleans standen, und befahl ihnen, sogleich 
die Belagerung aufzuheben und Frankreich zu verlassen. »Gebt 
heraus«, ließ sie ihnen sagen, »die Schlüssel alle von den Städten, 
die ihr bezwungen wider göttliches Recht. Die Jungfrau kommt 
vom Könige des Himmels, euch Frieden zu bieten oder blutigen 
Krieg. Wählt! denn das sage ich euch, damit ihr's wißt: das 
schöne Frankreich ist nicht für euch befchieden!« — Die Engländer 
lachten. »Nun!« sagten sie, »Karl muß doch sehr in Noth sein, 
daß er zu Weibern seine Zuflucht nimmt!« — Aber im Herzen war 
ihnen ganz anders zu Muthe. Abergläubisch waren sie so gut wie 
die Franzosen, und dachten voll Angst daran, wo das Alles noch 
hinaus wolle. Der Zug mit den Lebensmitteln brach auf; die 
Jungfrau führte die Soldaten an mit der weißen Fahne, und sie 
sehen und die Waffen wegwerfen, war bei den Engländern eins. 
Ohne Schwierigkeit wurden die Vorräthe in die Stadt geschafft; 
Johanna selbst, die nun das Mädchen von Orleans genannt wurde, 
hielt ihren Einzug in die befreite Stadt, deren Einwohner sie als 
ihre Retterin empfingen. Man richtete ihr eine gute Wohnung ein 
bei dem Schatzmeister des Herzogs von Orleans, entkleidete sie — 
denn sie war den ganzen Tag zu Pferde und unter den Waffen 
gewesen und daher müde — und setzte ihr eine treffliche Mahlzeit 
vor. Aber mäßig, wie sie war, rührte sie nichts davon an; sie nahm * 
nur eine Schale, füllte sie mit Wasser und Wein und schnitt einige 
Stückchen Brot hinein. Mehr aß sie nicht. 
Im englischen Lager war Alles wie verwandelt. Die Engländer 
waren so fest überzeugt von ihrer himmlischen Sendung, daß sie 
nicht gegen sie fechten wollten und gleich die Flucht ergriffen, sobald 
sie sich nur mit ihrer Fahne^ zeigte. Daher ließen sie auch nun die 
Franzosen in die Stadt und aus derselben ziehen, wie sie nur woll¬ 
ten. Die Franzosen, die sich bisher furchtsam hinter die Mauern 
verkrochen halten, griffen nun selbst die Engländer an und nahmen 
ihnen eine Schanze nach der andern weg. Bei dem einen Angriffe 
wurden die Franzosen zurückgeschlagen; nur Johanna wollte nicht 
weichen und war schon ringsum von Feinden umgeben. Da mußte 
sie endlich zurück, um ihre Flüchtlinge zu sammeln. Sie ließ ihre 
weiße Fahne wieder hoch flattern; unter ihr sammelten sich schnell 
die Zerstreuten wieder; sie eilte mit ihnen zurück auf den Kampf¬ 
platz und schlug die Engländer in die Flucht. 
Ein anderes Mal hatte sie sich zu weit in das Schlachtgewühl 
gewagt und erhielt einen Pfeil in den Hals. Das störte sie aber
	        
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