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Linke und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur
für dich allein!«
Lessings Charakter war derb und deutsch, sein Geist, an dem
gesunden Sinn des klassischen Alterthums genährt, war weit ent¬
fernt von Klopstock'scher Gefühlsüberspannung, wie von Wielandischer
weltkluger Lebensweisheit. Er buhlte nie um die Gunst der Hohen,
trachtete nie nach Titeln und Würden, sein männlicher Stolz wider¬
strebte jeder Abhängigkeit und Unterordnung, und das Gefühl seines
wahren Werthes ließ ihn jeden Schein, jede falsche Ehre verschmähen.
— Lessing gehört zu den ersten Größen unserer Literatur, deren
hohe Blüthe durch seine vielseitige und anregende Thätigkeit ganz
besonders gefördert ward. Er war ausgezeichneter Kritiker,
Schöpfer einer edlen Prosa, Reformator des Geschmacks,
scharfsinniger Denker und großer Dichter. Seine Fertig¬
keit in Sprache und Styl, die das Verwirrteste klar, das Trockenste
angenehm zu machen weiß, erscheint am Vollendetsten in seinen
theologischen Streitschriften, in seinen philosophischen
Abhandlungen und hn Laokoon. Reformator des Geschmacks
und des feinfühlenden Kunsturtheils wurde Lessing im Epigramm
(kurzes Gedicht, welches einen sinnreichen, witzigen Gedanken vor-
in der Fabel, im Drama (Schauspiel) und in anderen
Gebieten sprachlicher Darstellung; und wenn er selbst in seltener
Selbsterkenntniß und Selbstwürdigung den Ruhm eines großen
Dichters von sich ablehnte, so bewiesen doch seine Minna von
Barnhelm, seine Emilie Galotti und sein Nathan der
Weise, daß er wenigstens in dramatischer Dichtung seinen Zeit¬
genossen weit überlegen war. Unter den wenigen Zierden in der
Gelehrtenwelt, die in der Zeit, wo sie leben, über Alle emporragen
nach allen Seiten die kräftigen Arme ausstrecken, ihren Tagen weit
vorauseilen, auf künftige Tage in mannigfacher Art einwirken ist
was das 18. Jahrhundert betrifft, Lessing vor allen zu nennen.
Die Mittheilung der sogenannten Wolsenbüttelschen
Fragmente (1774), deren Verfasser der gelehrte Hamburger Arzt
Reimar us war, war die Veranlassung, daß sich Lessing eine Fluth
von Schmähungen, Verdächtigungen und Angriffen zuzog. Lessinas
Hauptgegner war der schon genannte Pastor Götze aus Hamburg
So viel geht aus dem Streit hervor, daß Götze es mit einem
Gegner aufgenommen hatte, dem er an Schärfe des Verstandes
nicht gewachsen war. Lessing erdrückte in seinem »Anti-Götze« den
Pastor durch die Kraft der Sprache unb siegende Beweisführung.
— Die schönsteFrucht dieser theologischen Streitigkeiten ist Lessinas
Nathan der Weise, den er gleichsam als Vermächtniß kurz vor
seinem Tode der Nation hinterlassen hat. Er zeigt in demselben,
welch ein himmelweiter Unterschied es sei zwischen wahrer Religiosität
des Herzens und Lebens und zwischen mechanischer Religionsübung.