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nicht einzuholen. Raub und Plünderung ward allgemein; der
Selbstmord nahm überhand. Am meisten litten die Rheinbündi-
schen. 22000 Bayern hatten die Oder überschritten, 11000
erreichten die Düna.
Dennoch zog der Verblendete unaufhaltsam tiefer ins In¬
nere wie Karl XII. Nur zweimal hielten die Russen ernsthaft
stand: am Eingang ins eigentliche Rußland und dann bei
Borodino an der Moskwa, an der Straße nach Moskau; .
aber nur, um nach zähestem Widerstand über Nacht zu ent¬
schlüpfen.
Endlich hielt der Kaiser auf einem Hügel vor Moskau
und ergötzte sich am Anblicke der halbasiatischen Stadt, ihrer
Kirchen mit ganzen Bündeln goldstrahlender Türme, den Prunk¬
palästen der Bojaren; alles überragt von der Kaiserburg auf
felsiger Höhe, dem Areml. Aber die Einwohner hatten sich
möglichst geflüchtet; durch entvölkerte Straßen ritt der Eroberer
ein wie einst der Brennns in Rom.
In Moskau sollten die Winterquartiere genommen, viel¬
leicht der Friede diktiert werden. Aber in der folgenden Nacht
schlugen Flammen empor und wälzten sich mit rasender Schnel¬
ligkeit gerade auf den Kreml los; und als der Wind sich drehte
und zum Sturm anschwoll, eilte das entfesselte Element von
anderer Seite her demselben Ziele zu. Nach fünf entsetzlichen
Tagen und Nächten lagen zwei Dritteile der wundervollen Stadt
in Asche. Der Stadtkommandant, Fürst Rostopschin, hatte die
Spritzen fortgeschafft und die Stadt durch freigelassene Ver¬
brecher anzünden lassen, um den Feind zu vernichten.
Auf Friedenserbietungen, die Napoleon nach tot. Peters¬
burg richtete, ging der Zar nur scheinbar und zögernd ein; Frei¬
herr von Stein, unter den Gegnern des Korsen der gewaltigste,
war an seinem Hofe der einflußreichste Mann. Einen vollen
Monat ließ Napoleon sich hinhalten. Erst im Oktober trat er /
den Rückzug an aus der leichenbesäten Straße, auf welcher er '
hergekommen, durch ein unabsehbares Land ohne Haus, ohne
Nahrung. Er hatte noch etwa 100000 Mann, denen sich Tau¬
sende bisher in Moskau ansäßiger Franzosen anschlössen.
Kaum ein Dritteil des Weges war zurückgelegt, als der
russische Winter hereinbrach. Der Schneesturm legte den schlecht
gekleideten und schlecht genährten Soldaten eine Eishülle um die
Glieder; der Hauch des Mundes fror fest am Bart, der eiserne
Gewehrlauf in der Hand. Wer hinfiel oder zur Rast sich
niedersetzte, ward zugeschneit und erstarrte. Ein sterbendes
Heer inmitten der abgestorbenen Natur! Um die Fetzen einer
Pferdeleiche wurde gekämpft, um jedes Nachtlager hinter schützen-
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