Full text: Lesebuch zur Geschichte der deutschen Literatur alter und neuer Zeit

Die klassische Periode. — Joh Heinr. Jung. F. S. Jacobi. 387 
Warum bist Du so gern mit mir allein? Meine Schwestern glauben, Du habest 
sie nicht lieb. 
„Doch liebe ich sie recht von Herzen.“ 
Du weinst oft, als wenn Du nmißmuthig wärest; das thut mir dann 
leid. Ich werde auch traurig. Hast Du Etwas auf dem Herzen, liebes 
Kind — das Dich quält? Sag' es mir. Ich werde Dir Ruhe schaffen; es 
koste auch was es wolle. 
O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrie⸗ 
den Ich habe Dich lieb ich habe unsere Eltern, unsere Shwestenn üeb, ja, 
ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will Dir sagen, wie es mni ist. Wenn 
ich im Frühling sehe, wie Alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die 
Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht anginge, 
es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worein ich nicht gehörte 
Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Rose, oder dues Kraut 
finde, dann werden mir die Thränen los, und mir wird so wohl, so wohl, 
daß ich es nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten 
machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling.⸗ 
Nun begann die Sonne unterzugehen, und Dortchen mit ihrem Wilhelm 
hatten recht die Wonne der Wehmuth gefühlt. Wie sie den Wald hinabgingen, 
durchdrang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib, und war ihr 
sauer, Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber 
Wilhelm war Tag und Nacht bei ihr. — Auf einmal wurde a gewahr, daß 
das Pochen ihres Pulses nachließ und dann wieder ein paarmal klopfte. Er 
rief seelzagend Mariechen (seine Schwester), Alles im Hause wurde wacker und 
lief herzu. Da lag Wilhelm und empfing Dortchens letzten Ahemzug in 
seinen Mund. — Sie war nun todt!! 
Wilhelm war betäubt und wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kom⸗ 
men. Doch endlich stand er auf, weinte und klagte laut. Auch Vater Sul 
ling und seine Margarethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Äugen fest zu 
und schluchzten. Es sah betrübt aus, wie die beiden alten Grauköpfe, naß 
von Thränen, zärtlich auf den verblühenden Engel blickten. Auch die Mädchen 
weinten laut, und erzählten sich unter einander alle die letzten Worte und 
Liebkosungen, die ihnen ihre selige Schwägerin gesagt hatte. 
b. dJacobi. 
. o2. 130 Lehrb h. 858 
Aus dem „Woldemar“ 
Richtiger Lebensgenuß. 
Sacht, sacht! rief Woldemar. Es kommt gar sehr auf die Beziehung 
an, worin etwas gesagt wird, auf den bestimmten eigentlichen Sinn, den es 
dadurch erhält. Nie war ich so unbesonnen, schlechterdings im Allgemeinen 
festzusehen, diese oder jene aͤußerliche Verfassung mache nothwendig glücklich 
oder unglücklich; ich geträue mir dies nicht einmal von innerlichen Ver 
fassungen und von Charakteren auszumachen. — O, der Mensch ist ein 
unermeßlicher Abgrund — ein unendliches Labyrinthl — Nur habe ich 
immer euch gerathen, zu lassen, was euch im Gruͤnde plagte, und allein zu 
thun, was euch wirklich Freude machte; nur mit euch selber äinig zu werden, 
für eigene Rechnung zu leben; kurz, Menschen zu sein und keine Chimären 
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