Schiller: Das demsche Kulturleben im Zeitalter Friedrichs des Großen. 193
die Genußsucht war geringer, und es war nicht so leicht, fundamentlose Ge¬
schäfte wie heute zu begründen. Der einfache, in Recht und Unrecht noch
wenig beirrte Sinn der Bevölkerung strafte unreelles Geschäftswesen ohne
Hilfe der Gerichte und führte so Solidität wirksamer herbei als bie heutige
gesteigerte Gerichtstätigkeit. Für die geringeren Chancen und Risikos der
Unternehmer reichten die vereinzelten Versicherungsgesellschaften gegen See¬
schäden, Feuersbrünste und Hagelschlag aus, und wenn Sparkassen sehr
langsam seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts sich Bahn brachen,
so war dies eben darin begründet, daß der Kredit noch nicht in so großem
Umfang und auch nicht in so unsolider Weise in Anspruch genommen wurde
wie heute. Am wenigsten war die allgemeine Lebenshaltung der Bauern
unb Hanbwerker gestiegen. Aber ber Hanbwerksmeister saß boch meist im
eigenen Hause unb hatte ein gesunbes Familienleben, in dem der Unterschied
von Meister und Gehilfen so gut wie ganz zurücktrat. Bei den gering
entwickelten Verkehrsverhältnissen stellten Mißwachs und Teuerung häufiger
und meist als schwere Kalamitäten sich ein, gegen die man keine Abhilfe
fanb. Die ganze Lebenshaltung, vor allem bie völlig gefunbheitswibrigen
Reinlichkeit"^, Luft- unb Wasserverhältnisse ber Stäbte unb Dörfer, machten
die Bevölkerung so wenig wiberstanbsfähig, baß die Sterblichkeit auch jetzt
noch sehr hoch war. Der Wohltätigkeitssinn war nicht weniger groß als
heute; aber es fehlte der Armenunterstützung jede verständige unb einheitliche
Organisation, unb bie Mittel ber einzelnen gingen verzettelt unb wirkungslos
pgrunbe, nur vielleicht hie unb ba unverbautes Elenb verschämter Armut
linbernb. In ben katholischen Länbern hatte sich bie ebelmütige, aber wenig
wirtschaftliche Freigebigkeit ber Klöster unb geistlichen Stiftungen erhalten,
unb gebettelt würbe nirgeubs so viel wie bort. Erst bas furchtbare Hunger¬
jahr 1771/72 zwang enblich zu planmäßigem Verfahren: Wohltätigkeits-
anftalten mit konzentrierter Leitung unb Arbeitsanstalten zur Beschäftigung
Arbeitsloser entstauben allerorten. Am wenigsten geschah trotz ber gewöhnlich
reichlichen Mittel in ben Reichsstäbten. Hier fanb man nichts Anstößiges
baran, baß ein Viertel ber Bewohner Almosen empfing unb vor ben Kirchen¬
türen reihenweise bie Bettler ihre Stühle hatten, die sie sogar an Stelle
einer Mitgift an ihre Kinder vererbten; hier machte erst die französische
Revolution Kehraus.
Die Lebensführung der höheren Kreise und der Höfe war gegen Enbe
des 18. Jahrhunderts namentlich in den protestantischen Gebieten sparsamer
und einfacher geworden; das Beispiel Frankreichs schreckte und schärfte die
Gewissen. Aber eine gewisse Neigung zu äußerem Prunk und Glanz erhielt
fich auch jetzt noch, von dem die heutigen prunkvollen Festlichkeiten unserer
größeren Höfe nur noch einen schwachen Abglanz liefern. Dagegen wurde
die Lebenshaltung des bürgerlichen Mittelstanbes reicher unb geschmackvoller ;
Atzler. Quellenstoffe u. Lesestücke. II. 13