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Mehrere der landesüblichen schmückenden Beiwörter des Weins sind ein Gedicht
aus dem Volksmunde, in ein einziges Wort zusammengedrängt. So sagt man gar
schön von einem recht harmonisch edlen sirnen Trank: ,es ist Musik in dem Wein';
ein guter alter Wein ist ein ,Ehrisam', ein geweihtes Salböl. Die ,Blume', das
.Bukett' des Weines sind aus ursprünglich örtlichen Ausdrücken bereits allgemein
deutsche geworden. An solch prächtigem, poetischem Wortschmuck für seinen Wein
ist der Rheingauer so reich wie der Araber an dichterischen Beiwörtern für sein
edles Roß. Aber uicht minderen Überfluß hat des Rheiugauers Wortschatz für
den schlechten, aus der Art geschlagenen Wein, in denen sich der rheinische Humor
gar lustig spiegelt. . . Obgleich fast alle die früheren sozialen Charakterzüge des
rheingauischeu Volkes erloschen sind, so war doch ein einziger nicht zu vertilgeu:
der Rheingauer ist der Mann des deutschen Weinlandes, des Weinbaues und des
Weintrinkens als solcher. Das ist die wunderbare natürliche Wahlverwandt-
schast zwischen ,Land und Leuten', die durch keine politische Umwälzung zerstört
werden kann."
„Der oberste Kanon der alten rheinganischen Landesrechte heißt: ,Jm Rheingau
macht die Luft frei.' Dieses große Privileg des salischen freien Landstrichs hat längst
seinen politischen Sinn verloren. Aber ein tiefer poetischer Sinn ist dem wunder-
lich klingenden mittelalterlichen Rechtsgrundsatze geblieben. Die Luft ist es iu der
Tat, die das moderne, in den Banden einer ebenso unreifen als überreifen Zivili-
fation gefangene rheinganifche Volksleben einzig noch frei macht, die milde, Hespe-
rische Lust, in ganz Deutschland sondergleichen, welche die Traube des Steinbergs
und Johannisbergs reift, damit der Wein wenigstens das arme Volk im reichsten Gau
mit einem Strahl der Poesie verkläre und ihm das Köstlichste nicht ganz verloren sein
lasse, was deu einzelnen Menschen wie Volksgruppen und Nationen auszeichnet:
eigenartige Persönlichkeit." —
Tie geographische Stellung des Rheingaubeckens ist durch die von allen Seiten
sich öffnenden Gebirgspforten bedingt. Außer den Talwegen des Rheins und
der Nahe, des Neckar und Main sind noch zwei Völkertore hervorzuheben. Im Nord-
osten bildet zwischen dem Taunus uud dem Vogelsberge die schöue uud fruchtbare
Wetterau, aus der die Flüsse Wetter, Nidda und Nidder Herabkommen, einen Über-
gang zu dem Gebiete der Weser, und durch das Tal der Kinzig nebst einigen anderen
Tälern und niedrigen Einsattlungen zwischen dem Vogelsberge, dem Spessart und
der Rhön wird in nordöstlicher Richtung eine Verbindung mit Thüringen und
Sachsen angebahnt.
Diese Naturwege finden wir schon in sehr alten Zeiten bei kriegerischen und sried-
lichen Unternehmungen häufig betreten. Hier zogen bereits germanische Stämme
der Wesergegenden, z. B. die Chatten, bei ihren Einfällen in die römische Rhein ebene;
hier zogen römische Feldherren mit ihren Legionen, besonders der für die Bezwin-
gung Jnnergermaniens am ernstlichsten tätige Drusus, in das mitteldeutsche Gebirgs-
laud und bis an die Ufer der Elbe; und hier suchten die Römer durch Befestignngs-
werke ihre zahlreichen Niederlassungen am unteren Main zu schützen. Beide Bahnen
erhielten später steigende Wichtigkeit und gehören in neuerer Zeit zu den wichtigsten
Straßen Deutschlands. Die Richtung der einen ist heute durch die große Straße
und Eisenbahn von Straßburg und Frankfurt über Gießen und Marburg nach Kassel,
Berlin und Hamburg, die Richtung der anderen durch die große Straße uud Eisen-
bahn von Frankfurt über Hanau, Gelnhausen, Fulda nach Eisenach und Leipzig be-
zeichnet. Welch wandelndes Leben, welche Warenzüge, welche Heeresmassen haben
Lerche, Erdkundl. Lesebuch. 6