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dazu dienen soll, Sibirien in seiner ganzen Richtung von Ost nach
West zu erschließen und eine rasche Truppenvorschiebung bis an die
Küste des stillen Oceans zu ermöglichen, — das ist der Bau der
sogenannten sibirischen Eisenbahn, die in Wladiwostok am Japanischen
Meere und auch in Port Arthur am Golf von Petschili münden
wird. Hier sind ja schon langst die Vorarbeiten in Angriff genommen,
und Sträflinge schaffen im Schweiße ihres Angesichts an dieser eminent
civilisatorischen und zugleich strategisch wichtigen Bauarbeit. Hoffentlich
wird das Riesenwerk, das in seiner Kühnheit und in der kolossalen
Schwierigkeit der Herstellung wohl den Durchstichen der Suez- und
Panama-Landengen, den Tunnelbauten der Alpen und den gewaltigen
Eisenbrücken, die in Amerika und England über breite Meeresarme
führen, an die Seite gesetzt werden kann, langsam aber sicher seiner
Vollendung entgegengehen. Bereits werden Schnellzüge von Peters¬
burg bis Tomsk, der sibirischen Universität, abgelassen. Sie fahren
ununterbrochen sechs Tage und sechs Nächte und sollen an Luxus
und Komfort noch die amerikanischen Expreßzüge überflügeln. Jen¬
seits des Tom beginnt Urwald von Cedern oder Espen, und die
Ingenieure haben die Arbeit des Vermessens in dieser fürchterlichen
Gegend als eine Höllenqual geschildert. Man sinkt Schritt für Schritt
in dem Espendickicht in den Sumpf ein, und Myriaden von Insekten
verfolgen die kühnen Pioniere.
Wird die große sibirische Eisenbahn fertig, so umklammert das
eiserne Band der Schienen zuletzt unmittelbar das große chinesische
Weltreich, und wir müssen uns also weiterhin mit der Bedeutung
und Würdigung des Chinesenreiches beschäftigen.
Der größte jetzt lebende Sinologe, von Richthosen, gesteht ein,
daß China ein sehr wenig bekanntes Land sei und abschließende
Urteile sich kaum werden abgeben lassen. Dies gilt allerdings nur
für die eigentlichen Bewohner des Reiches der Mitte. Denn die
Chinesen besitzen einen regen Auswanderungstrieb — man hat sie
darum mit den Normannen des Mittelalters verglichen —, und die
Eigenart der chinesischen Kulis kann man in San Francisco, Australien
und in der ganzen Südsee genugsam studieren. Sie sind ja dort so
verbreitet, daß man bereits den stillen Ocean als chinesisches Meer
bezeichnen will. — Die Russen haben als Nachbargebiet zunächst die
Mandschurei mit Mulden, der ehemaligen Hauptstadt der Mandschu-
dynastie und jetzt der Totenstadt der Kaiser, in welcher jeder neue
Beherrscher die Annalen seines Vorgängers niederlegt. Dann beginnt
vom Busen von Petschili ab das eigentliche China mit seinem ganz
beispiellosen Volksgewimmel. Das Mündungsland der Flüsse Hoangho
und Jantsee —- letzterer der Gürtel Chinas und der eigentlich heilige
Strom der Chinesen —, also die Provinz Kiangsu, hat einen Flächen¬
raum nur viermal so groß wie Pommern, und doch wohnen dort