Full text: Charakterbilder deutschen Landes und Lebens für Schule und Haus (Theil 3)

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hier, .wo sie so geschont werden. Der Wiener liebt aber auch diesen 
breitkronigen Baum gar sehr, und ich würde es Keinem rächen, in 
Gegenwart von Spaziergängern einen dieser Bäume zu beschädigen. 
Da sie vereinzelt stehen, so sind sie dem Städter ein wahres Kleinod 
geworden; der Spaziergänger geht von Schatten zu Schatten, der Philo- 
soph, der Grübler, der Lesefreund setzt sich an dem Stamme nieder 
und versinkt in seine Gedanken oder in sein Buch; der ermüdete Arbeiter 
und der Tagedieb schlummern in seinem Schatten; so geht der Wandler 
an Allen vorüber und stört sie nicht weiter; der Künstler sitzt mit seiner 
Mappe auf seinem Niedern Feldstuhle und zeichnet oder malt einen Baum 
«oder eine Gruppe. Durch die Laubkronen glänzt Sonnenschein und Him- 
melsbläue, und ein Westlüftchen, das über die heiße Stadt gekommen war, 
wundert sich hier, daß es frisches Waldgrün getroffen hat, und blättert 
gern in den Zweigen der Silberpappel. 
Solche stille, feierliche Zeit im Prater ist meistens an schönen Früh- 
lings- und Sommervormittagen, und tiefer unten, wo sein städtischer Zu- 
schnitt aufhört. 
Aber, lieber Fremdling, laß uns nun wieder umkehren und wieder 
das Menschengewühl und endlich die Stadt suchen; denn sieh', die Mai- 
sonne ist bereits im Untergehen. — Aber sei getrost, dort sehen wir schon 
Wagen, die bis zum Lusthause fahren, das auf der Jnselspitze am Wasser 
liegt; schon hören wir wieder die Musik der Kaffeehäuser, — dasselbe 
Auf- und Abhaspeln der Wagen, des Glanzes und Pompes in der 
Hauptallee; dasselbe bethörende und verwirrende Klingeln und Schmettern 
aus dem Wurstelprater herüber; dasselbe Wogen und Wallen der Menge 
wie wir es verlassen, daß Du meinst, es müssen ja alle Bewohner von 
Wien hier sein, oder im Herabgehen begriffen — aber sieh zu, wir 
gehen die ewige lange Allee hinauf, geblendet von der Abendröthe; jetzt 
stehen wir wieder an der Jägerzeile, und Du siehst sie vollgepfropft 
von Menschen, die fast Alle hinauf gehen. Ermüdet, betäubt und 
zerschlagen langen wir endlich von dieser Partie an, die wir mit solchem 
Ergötzen begonnen haben. Beide eine und dieselbe Sehnsucht empfindend 
— sie soll auch befriedigt werden, komm' mit mir; in einem kühlen, 
luftigen Zimmer meiner Gartenwohnung wartet meine Gattin auf uns 
und hat schon auf den gedeckten Tisch gestellt, was uns noththut: eine 
bekannte Wiener Lieblingsspeise, gebackene Hühner mit dem zartesten Salate 
und ein nicht gar bescheidenes Fläschchen alten Nußberger. Erquicke Dich, 
rede noch eins mit uns, und dann gehe zu Bette; aber habe Acht, daß Dich 
nicht Träume wecken, und Du Dich etwa mit dem Bette im wahnsinnigen 
Menschenkreisel gedreht findest, oder in demselben, als einer gewaltig 
lächerlichen Equipage, im Prater auf- und abschwimmst, etwa gar im 
Hemde, was Dich sehr kränken würde. 
Gute Nacht. 
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg.
	        
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