Roms Gründung.
175
ein. Doch hatte er sein Geheimnis nicht kund werden lassen. Jetzt er¬
öffnete er in der Angst dein Romulus, was ihn beunruhigte. Auch
dem Numitor, der den Remus gefangen hielt, fiel bei seinem Anblick
der Gedanke an seine Enkel aufs Äerz; er glaubte, an dem Jünglinge
die Züge seiner Tochter wiederzuerkennen; sein Alter und sein kühnes
Benehmen bestärkten ihn in seiner Ahnung. Schon war er geneigt, sich
gegen Remus darüber auszusprechen und ihn als seinen Enkel anzuer¬
kennen; schon entwarf er, alle Gefahren prüfend, Pläne zu des Bruders
Entthronung. Da gab des Nomulus Kühnheit dem Großvater zu ent-
schloffenem wandeln den letzten Antrieb. An der Spitze seiner Gefähr¬
ten, die er auf verschiedenen Wegen um eine bestimmte Zeit an der
königlichen Burg hatte zusammentreffen lassen, stürmte Romulus zum
Könige Amulius hinein, während Remus, der inzwischen in Freiheit
gesetzt war, ihn von Rumitors Wohnung aus mit einem zweiten Äaufen
unterstützte. Amulius wurde ermordet; Numitor enthüllte seines Bruders
Freveltaten dem zusammenströmenden Volke und empfing zuerst vou
seinen Enkeln als König Begrüßung und Huldigung, die versammelten
Latiner aber stimmten jubelnd ein.
Romulus und Remus sahen so ihren Großvater wieder im Be¬
sitze von Albalonga. Da stieg in ihnen der Wunsch auf, in der
Gegend, wo sie ausgesetzt und erzogen worden waren, eine Stadt zu
erbauen. Doch entstand bald Streit darüber, wer sie nach sich benennen
und beherrschen sollte. Das Recht der Erstgeburt konnte keinen Aus¬
schlag geben, weil sie Zwillinge waren. Götterzeichen sollten deshalb
entscheiden, und beide begaben sich zur Beobachtung des Bogelfiugs auf
zwei verschiedene Schauhöhen, Romulus auf den palatinischen, Remus
auf den aventinischen Berg. Den: Remus erschienen zuerst glückbringende
Bögel, sechs vorüberfiiegende Geier; kaum aber hatte er das trium¬
phierend dem Bruder melden lassen, als dieser die doppelte Anzahl,
zwölf Geier, erblickte. Jetzt schien der Wille der Götter zweifelhaft;
jeder legte das ihm gewordene Zeichen zu seinem Vorteile aus und
wurde von seinen Anhängern zum König erklärt. Aus dem Wortstreit
wurde ein Handgemenge; erbittert schritten die Brüder zu blutigen
Taten, und Remus sank, im Gewühle des Kampfes tödlich getroffen,
zu Boden.
Nach einer anderen Sage fand Remus erst seinen Tod, als Ro¬
mulus eine neue Stadt zu bauen begonnen hatte und der Bruder voll
Äohn über die niedrige Mauer gesprungen war. Da soll ihn der Er¬
zürnte erschlagen haben mit den Worten: „So fahre jeder dahin, der
nach dir über meine Mauer setzt!"