Object: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

Treue Wanderaesellen. 
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Aus einmal aber wurde der Schmied krallt im fremden Polenlande und 
mußte in einem Dorfe liegen bleiben, wo ihn die Leute so wenig verstanden, 
wie er sie. Die Dorfbewohner hatten vielleicht selbst genug Arme und Kranke 
und kümmerten sich wenig um den kranken Fremdling. Da wäre es ihm 
nun sehr elend ergangen, wenn sonst niemand dagewesen wäre. Aber der liebe 
Gott hat allerorten seine dienstbaren Geister und stellte so einen an das 
Schmerzenslager des armen Fremdlings, und das war sein lieber Freund, 
der Schneider; der verließ ihn nicht in seiner Not. Er war Tag und Nacht 
um den Kranken und pflegte und erquickte ihn. Er wußte die wohlhabenden 
Bäuerinnen so mitleiderweckend anzugehen, daß er bald da, bald dort eine 
Schüssel kräftiger Suppe herausbrachte, und wo die bittenden Blicke und sein 
bißchen Polnisch nicht zureichten, da legte er ein Stück seiner Habschaft dafür 
hin, eins nach dem andern. Dafür hatte er aber die herzliche Freude, seinen 
Kameraden nach einiger Zeit wiederhergestellt zu sehen. Dieser wußte ihm 
für die erwiesene Liebe und Treue nicht genug zu danken, war aber auch 
tief bekümmert darüber, daß er ihm seine Sachen nicht wieder ersetzen konnte. 
Der Schneider aber tröstete ihn und sprach: „Was ich dir getan habe, das 
habe ich meinem Herrgott getan; der ist reich genug, alles wieder zu bezahlen; 
aber es verlohnt nicht der Mühe." Die guten Freunde zogen nun in Warschau, 
der Hauptstadt Polens, ein. Da bekam der Schmied Arbeit, der Schneider 
hingegen nicht. Darum mußten sie sich trennen, und es tat beiden Herzen 
wehe, als sie einander zum letztenmal die Hand drückten. 
2. Dem Schneider ging es von da an übel. Er wanderte beinahe zehn 
Jahre kreuz und quer durch die verschiedensten Länder und hatte zuletzt keinen 
Strumpf mehr an den Füßen und keine Sohle mehr an den Schuhen. Am 
Ende geriet er gar unter die Werber, die ihn als Rekruten nach Wien lieferten. 
Sie ließen ihn jedoch bald wieder laufen, da sie merkten, daß er den Feinden 
nichts weniger als gefährlich werden dürfte; denn er war sehr schwächlich 
und fast immer krank. Halbnackend kam er nunmehr nach Sachsen hinein, 
und weil er in seinem armseligen Aufzuge nirgends Arbeit fand, mußte er 
endlich betteln. 
Da traf es sich, daß er eines Abends in einem Dorfe einen Schmied 
um einen Zehrpfennig ansprach. Dem Meister, welcher mit vier Gesellen 
arbeitete, fuhr die Stimme durch alle Glieder. Er sprang an die Tür, hielt 
dem Bettler das Licht ins Gesicht und rief: „Je, Bruder, bist du 's, oder 
bist du 's nicht?" Mit unbeschreiblicher Freude erkannte er seinen alten Freund. 
Der Schmied, welcher eine reiche Witwe geheiratet hatte, brachte den matten, 
frierenden Pilger in die Stube, legte ihm seine Sonntagskleider an, setzte 
ihn in den Lehnstuhl am warmen Ofen, ries alle seine Leute zusammen und 
sagte ihnen, das sei der liebe Bruder Schneider, von dem er ihnen so viel 
erzählt, und dem er es nächst Gott zu danken habe, daß er nicht schon lange 
auf einem polnischen Kirchhofe liege. Die Meisterin, welche dem unbekannten 
Wohltäter ihres geliebten Ehegatten schon oft Gottes Segen auf allen seinen 
Wegen gewünscht hatte, war zur Küche hereingesprungen, hatte eiligst ihre Hand 
abgetrocknet und sie unter freundlichen und herzlichen Grüßen dem werten Gaste 
hingestreckt. Sie eilte aber bald wieder hinaus, um zwei fette Gänse abzuschlachten 
und ein festliches Mahl zu bereiten, wozu sie ihre ganze Freundschaft laden ließ. 
Der Schmied aber rief ein Mal über das andere: „Das soll mir ein Freudentag 
sein!" und herzte und küßte den treuen Kameraden, der noch immer ganz 
verstummt drein sah und die Sprache nicht recht finden konnte.
	        
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