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sie nimmermehr von Dir gehen kann, wenn Sie mir dies reine, lautre, göttliche Gefühl,
das nur Seelen vereinigt, zutrauen, ach, mein Allerliebster, mein Einziger, dann küsse
ich Deine Knie.
Aber lassen Sie mich auf die bittre Abschiedsstunde zurückgehen; dort wo Sie
vielleicht zuweilen an mich gedacht und geträumt haben, haben Sie mich verlassen. . .
Doch gut; ich durfte nicht länger Ihnen nachweinen, Sie umarmen und segnen; ich
wurde nach Hause gerufen und fand meine Schwester um Sie weinen; ich hätte ihr
beinahe in diesem Augenblick meine ganze Glückseligkeit erzählt, so gut war ich ihr; aber
ich war stumm und bliebs Abend und Morgen daraus, bis Leuchsenring kam und mir
sanft verwies, daß es töricht und fast lasterhaft wäre, traurig zu sein. Mein Gott,
dachte ich, welch niedre, kleine Idee wird mein bester, ewiggeliebtester Freund noch in der
letzten Stunde von mir mitgenommen haben! wie schwach wird er mich denken! Aber
Sie tun mir unrecht, gute, liebste Seele! Es war nur der erste finstre Augenblick unsrer
Trennung, der so ganz auf mich fiel. Ach, jetzt fühle ich es, daß unsre Seelen nicht
getrennt werden konnten, und mit der größten Gelassenheit einer menschlichen Seele bete
ich die Vorsehung an, die mir in meinem ganzen kleinen Leben immer fühlbar war, und
wird sie auch jetzt nicht über uns walten? Komm, edle, himmlische Seele! wir wollen
unsern: guten Gott danken, daß er uns zusammengeführt hat; er weiß es am besten,
warum wir jetzt getrennt sind — und sollt ichs nicht auch schon halb wissen? Ich weiß
es, ich bin noch nicht das, was ich für Dich, für Deine Gesellschaft sein sollte; jetzt habe
ich Zeit, Munterkeit, Jugend, um alles noch nachzuholen. Welches Bild ist geschickter,
mich zu Ihnen hinaufzubilden, aufzumuntern aus dem Seelenschlaf, der lang genug
geschlafen worden, als eben Dein liebenswürdigstes, holdes Bild, das — o Gott, ich
kanns nicht sagen, wie ichs anbete und umarme! — Aber verhehle mir keinen Zug
daraus, mein Allerliebster; aus der ganzen Welt habe ich keinen Freund wie Sie, und
darf ich mirs frei sagen? keinen andern, für den ich mich ausbilde. Ach! wäre ich
hierin nicht ganz unglücklich!
Ich hoffe, daß Sie die böse Darmstädter Luft ganz weggeatmet haben; mir blutet
noch das Herz, wenn ich an diese Tage, die wir wahrhaftig ganz anders verdienten,
denke. . .
Lebe wohl, ewig wohl, edle, himmlische Seele! — ich bin bei Dir, wo Du auch
sein magst, in Deinem Reisewagen, den ich mit der bittersten Wehmut ansehen und hier
bleiben mußte. Gott im Himmel segne Dich! Sei nur ruhig meinetwegen! Ich bin so
heiter und gelassen, als ichs in meinem Leben nicht gewesen. —
6. Katharina Elisabeth Goethe, geb. Tertor (Fran Aja) (1731—1808).
Quellen: B. Suphan, Briefe von Goethes Mutter an ihren Sohn, Christiane und August von Goethe.
Weimar 1889. Schriften der Goethe-Gesellschaft. 4. Bd., S. 1, 353, 336. K. Heinemann, Briefe
von Goethes Mutter an die Herzogin Anna Amalia. Leipzig 1889, S. 60.
1. An ihren Sohn.
(Frankfurt,) den 23ten Mertz 1780.
Lieber Sohn! Diesen Augenblick bringt mir Herr Paulsen zwey Briefe, die mich
so in einen Freuden und Jubelthon gestirnt haben, daß es gar nicht ausgesprochen werden