Full text: Erdkundliches Lesebuch für die Oberstufe höherer Lehranstalten und Seminare

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B. Zur Länderkunde. 
nimmt der Hauptfluß selbst eiue westliche Richtung, bis er an seinem herrlichen Felsen- 
tore bei Bingen nordwärts in eine ganz andere Landschaft gezwungen wird. An 
derselben Stelle fließt ihm die Nahe nach einem 120 km langen, sich mehrfach durch 
anziehende Felsentäler hindurchwindenden Laufe zu uud setzt die Ebene nach Westen 
bis Kreuznach, bis zur Porphyrnadel des Rheingrafensteins fort. 
Ein überaus bevorzugter Landstrich! Man denke nur an die fruchtbaren Auen 
der Nidda und Wetter im Osten, an die offene, lacheude Weinlandschast der unteren 
Nahe im Westen, an die fruchtbaren Ebeneu, die gegeu den Donnersberg hin zu 
Hügelu sanft anschwellen, an die vielen und vielbesuchten Heilquellen am Taunus 
(Wiesbaden, Sodeu, Homburg, Langenschwalbach, Schlangenbad, Nauheim u. a.) 
und endlich an die von diesem Gebirge gegen rauhes Klima geschützten, von zauberisch 
mildem Lufthauche berührten Gefilde am rechten Rheinufer, wo, der ganzen Wärme 
der Mittagssonne preisgegeben und von ihren Strahlen senkrecht getroffen, neben 
den üppigsten Saaten die edelsten Trauben gedeihen. Über ihre lichten Fluren 
werfen die waldigen Häupter der den Gesichtskreis begrenzenden Berge ein ge- 
wisses feierliches Dunkel, aus dem erust und hehr die Germania vom Niederwalde 
herniederschaut. Hier liegt das gelobte Land des heiteren Rheingaues, „des Rheins 
gestreckte Hügel, hochgesegnete Gebreiten, Auen, die den Fluß bespiegeln, wein- 
geschmückte Landesweiten" (Goethe im Motto zu einer Reise am Rhein), mit seinem 
lustigeu, leicht erregbaren, eigenartigen Volksleben, das trotz der oft herben Prosa 
der gegenwärtigen Überkultur in der Erwerbsweise immer noch durch deu göttlichen 
Humor des Weius von dem Goldfaden der Poesie durchwebt ist. 
„Seit tausend Jahren", bemerkt W. H. Riehl, dessen Heimat diese Gegenden 
sind, „ist das Rheinganer Leben gleichsam in Wein getränkt, es ist ,weingrün' ge- 
worden wie die gnten alten Fässer. Ties schafft ihm feine Eigeuart. Denn es gibt 
vielerlei Weinland in Deutschland, aber keines, wo der Wein so eins und alles wäre 
wie im Rheingau. Hier zeigt sich's, wie ,Land und Leute' zusammenhängen. Der 
Wein ist allerwege das Glaubensbekenntnis des Rheingauers. Wie man zu Crom- 
wells Zeit in England die Royalisten an der Fleischpastete, die Papisten an der Ro- 
sinensnppe, die Atheisten am Roastbeef erkannte, so erkennt man seit nnvordenk- 
licher Zeit den Rheinganer an der Weinflasche. Man erzählt sich im Rheingau von 
Müttern, die ihren neugeborenen Kindern als erste Nahrung ein Löffelchen guten 
alten Weines einschütteten, um ihr Blut gleich in der Wiege zum rechten Pulsschlag 
der Heimat zu befeuern. Ein tüchtiger ,Brenner', wie man am Rhein den voll- 
endeten Zecher nennt, trinkt alltäglich seine sieben Flaschen, wird steinalt dabei, ist 
sehr selten betrunken und höchstens durch eine rote Nase ausgezeichnet. Die Cha¬ 
rakterköpfe der gepichteu Trinker, der haarspaltenden Weingelehrten und Weinkenner, 
die übrigens doch gemeinhin mit verbundenen Augen durch die bloße Zunge noch 
nicht den roten Wein vom weißen unterscheiden können, der Weinpropheten, der Pro- 
bensahrer, die von einer Weinversteigerung zur anderen bummeln, um sich an den 
Proben gratis satt zu trinken, finden sich wohl nirgends anders in so frischer Eigenart 
als im Rheingau". 
„Das Zeitbuch des Rheingauers teilt sich nicht ab nach gewöhnlichen Kalender- 
jähren, sondern nach Weinjahren. Leider fällt die übliche Zeitrechnung, welche von 
einem ausgezeichneten Jahrgang zum anderen zählt, so ziemlich mit der griechischen 
nach Olympiaden zusammen." 
„Die ganze Redeweise des Rheingauers ist gespickt mit ursprünglichen Worten, 
die auf deu Weinbau zurückweisen. Man könnte ein kleines Lexikon mit ihnen füllen.
	        
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