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der Reiche und Glückliche int Bunde, der seine stolzen Schiffe auf ebner
Bahn entsendet. Die Ebbe enthüllt aber auch eine Menge Geheimnisse
der Tiefe, welche die Flut mit dem einförmigen Teppiche des Wassers
überzieht. Da kommen die hübschen Muscheln und die Ungetüme des
Meeres zutage, die sich auf dem Grunde versäumten. Da sieht man die
versandeten Wracks und Balken der ehemals gestrandeten Schiffe; da
zeigen sich im Sonnenschein die Korallen und Kräuter, die in der dunkeln
Tiefe des Meeres wachsen. Selbst in der Luft herrscht zur Zeit der Ebbe
regeres Leben; denn die Vögel machen sich heran, um der Ebbe zu folgen.
Auch sie finden ihre Tafel auf den Sandbänken reichlich gedeckt. Die
Strandläufer, die Möwen, selbst die Schnepfen und Störche flattern oder
wandeln am Strome auf den entblößten Lagunen, um auf das Seegewürm
Jagd zu machen. Während der Flutzeit, die ihnen einen Teil ihrer Nah¬
rung entzieht, sitzen sie dann ruhig ant Lande, auf den Wiesen hinter den
Deichen, um der Verdauung zu pflegen.
Johann Georg Kohl. <Tie Reisen in den Niederlanden.)
209. Aus dem Norden.
Wenn bei uns in den Feldern die Kornblumen blühen und in den
Gärten die Johannisbeeren reifen, dann sind die Tage recht lang und die
Nächte kurz. Die sparsame Hausmutter läßt die Lampe ruhig stehen, ohne
sie anzuzünden; die Binder spielen auf den Straßen und Plätzen bis
zum Schlafengehen, und die lichtscheue Eule muß lange warten, ehe sie
ihre sichere Wohnung in der Spitze des Kirchturms verlassen kann.
Um diese Zeit geht unsern Brüdern, die im nördlichen Schweden
und Norwegen wohnen, die Sonne gar nicht unter; um Mitternacht
scheint sie noch hell zu Spiel und Tanz für alt und jung, als gäbe es keinen
Schlaf und keine Nacht. Die Schnee-Eule wartet vergebens auf den Abend;
sie muß sich bequemen, bei Tag auf Raub auszufliegen. Die Sonne
kreist groß und hell rings am Horizont herum, senkt sich um Mitternacht
wohl ein wenig, geht aber nicht unter. Wer nicht gut bei Tageslicht
schlafen kann, der muß die Fenster seiner Kammer sorgfältig verhängen,
um durch künstliche Dämmerung den Schlaf zu fördern. Das ntag manchem
gar schön dünken; aber wenn es nur immer so bliebe. — Schreiben wir
den 21. Dezember und feiern bald darauf das liebe Weihnachtsfest, dann
sind bei uns die Tage wohl bedeutend kürzer als um Johannis; aber die
Sonne kommt doch jeden Morgen wieder zum Vorscheine, wenn sie auch
etwas auf sich warten läßt. In jenen Gegenden jedoch hat sie auf lange
Zeit Abschied genommen, und die Kerzen am Weihnachtsbaume können
des Mittags um zwölf Uhr angezündet werden. Wer will, kann des
Morgens mit sechs Uhr zu Bett gehen und des Abends um sechs Uhr