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Urgeschichte.
andern Berichte, wie sie theils mit dem hebräischen übereinstimmen,
theils sich von ihm unterscheiden, als Beweise, daß auch bei anderen
Völkern Erinnerungen aus der Urzeit lebendig geblieben sind, daß die¬
selben sich aber in Folge der stärkeren Abirrungen von dem ursprüng¬
lichen Zustande mannigsach getrübt haben. So bleibt ein nationales
Gepräge dem fraglichen Theile der heiligen Schrift nur insofern, als
derselbe sich bei der Bestimmung des israelitischen Volkes, die Urzeit
mit dem Christenthume zu vermitteln, mit dessen Geschichte verknüpfen
und in dessen Sprache kleiden mußte. Selbst die Herleitung aus der
hebräischen Sprache, welche viele Personennamen gestatten, läßt sich, da
sie bei Auszeichnung der heiligen Urkunde ihre Hauptbedeutung als Be¬
zeichnung sachlicher Verhältnisse gehabt haben können, eben so wenig für
eine erst in der Zeit entwickelter hebräischer Nationalität erfolgte Ge¬
staltung der Ueberlieferung anführen, als sie ein Hinaufreichen der
hebräischen Sprache in die Zeiten der ursprünglichen Menschheit beweist.
2. Die Chronologie der Urzeit, die nach den in der Bibel über
Geschlechtsfolgen und Lebensdauer enthaltenen Angaben nur annähernd
festzustellen ist, läßt die Zeit, wo Gott den Menschen mit Vernunft und
Freiheit begabt auf die Erde stellte und durch Verleihung der Sprache
sein Bewußtsein sich entwickeln hieß, ungefähr viertausend Jahre vor
die Geburt des Heilandes setzen. Wenn gegen diese Annahme in einer
Zeit, wo die Wissenschaft in unreifen Versuchen Stoff zu Einwürfen
gegen Thatsachen der Offenbarung herbeizuschaffen geneigt war, die äl¬
teste und die neueste der Wissenschaften, die Astronomie und die Geo¬
logie, Einsprache zu erheben schienen, so haben dieselben Wissenschaften
im Fortgange ihrer Entwicklung die von ihnen erregten Bedenken auch
wieder entkräftet und so die seitdem auch in vielen anderen Punkten ge¬
rechtfertigte Hoffnung erweckt, daß unerklärlich scheinende Thatsachen der
Offenbarung überhaupt von größerer Vervollkommnung der Wissenschaft
eine Verdeutlichung zu erwarten haben. Ein anderes Bedenken rein
geschichtlicher Art hat sich nicht minder bei reiferer Betrachtung gelöst.
Wenn man die Zeit, über welche die heilige Schrift die einzigen Nach¬
richten liefert, mit der gesammten folgenden vergleicht, so finden sich
die größten und umfassendsten Bildungen und Umgestaltungen im Leben
der Menschheit, gegen welche alle späteren mit ihr vorgegangenen Ver¬
änderungen höchst unerheblich sind, in einem Zeitraum zusammengedrängt
der im Vergleich mit der von jenen kleineren und sparsameren Ver¬
änderungen ausgefüllten Zeit auffallend kurz ist. Es verhält sich aber
mit dem Leben der Menschheit wie mit dem Leben des einzelnen Men¬
schen. Die Jugend ist die Zeit des überraschenden Wachsens und nach¬
dem sich der Körper geformt, der Geist seine Richtung gewonnen, der
Charakter sich gebildet hat, erscheinen alle noch folgenden Veränderungen