Varnhagen von Ense: Blücher auf dem Marsche nach Waterloo. Zell: Achilleus. 315
der unaufhörliche Regen hatte den Boden ganz durchweicht, die Bäche geschwellt,
jede kleinste Vertiefung mit Wasser gefüllt. Die schmalen Wege durch Wald
und Gebüsch nötigten zu häufigem Abbrechen der Glieder. Däs Fußvolk und
die Milcret famen mit Muhe fort, das Geschütz machte unsägliche Beschwer;
der Zug rückte zwar immer vor, aber mit solcher Langsamkeit, daß zu befürchten
war, er werde zur Schlacht viel zu spät eintreffen und weit über den Zeitpunkt
hinaus, in welchem er für Wellington noch die versprochene Hilfe sein könne.
Offiziere kamen und brachten Nachricht von dem Gange der Schlacht, von
Napoleons übermächtigem Andrange, und wie sehr die Ankunft der Preußen ersehnt
welde. Blucher, in heftigen Sorgen, sein gegebenes Wort nicht zu lösen, rief
sein Vorwärts, Kinder, vorwärts!“ anfeuernd in die Reihen der Truppen;
überall fördernd flogen seine Blicke und Worte umher; wo ein Hindernis ent—
stand, wo eine Stockung sich zeigte, war er sogleich gegenwärtig; doch alle An—
srengung gab noch immer nur geringe Aussicht zůr rechten Zeit anzulangen.
Neuerdings trieb er zu verdoppelter Eile an die Truppen erlagen fast den
Muhseligkeiten; aus dem Gemurmel der im Schlamm und durch Pfützen Fort⸗—
aͤrbeltenden klang es hervor, es ginge nicht, es sel unmöglich. Da redete Blücher
mit uefster Bewegung und Kraft seine Krieger au: Kinder, wir müssen vor—
waͤrts Es heißt wohl, es gehe nicht, aber es muß gehen, ich hab' es ja meinem
Bruder Wellington velsprochei. Ich hab' es versprochen, hoͤrt ihr wohl? Ihr
wollt doch nicht, daß ich wortbrüchig werden solln Und so ging es denn mit
allen Waffen unaufhaltsam vorwärts.
2. Geschichtliche Charakterzeichnungen.
256. Achilleus als Freund des Patroklos.
Von Karl Zell. Über die Jliade und das Nibelungenlied. Karlsruhe, 1843.
Von den Gefühlen des menschlichen Herzens, welche die Grundlage des
menschlichen Zusammenlebens und die witksamsten Triebfedern des Handelns
bilden, lritt n der Iliade die Freundschaft besonders hervor. Der Held, um
welchen sich das ganze Gedicht wie um seine Achse dreht, Achilleus, wird vor—
zugsweise durch das Gefühl der Freundschaft bestimmt. Achilleus hatte die von
MWamemnon zur Versöhnung angebotene Wahl einer aus den Töchtern des
MWamemnon ausgeschlagen; er blieb in seinem unthätigen Grolle bei seinen
Schiffen; nur die Macht der Freundschaft war noch stärker als sein Stolz. Er gab
den Freunde auf seine Bitten seine eigenen Waffen; er hätte sie wohl keinem
andern gegeben. Patroklos fällt, und jetzt erst versöhnt sich Achilleus wieder;
sehl beginnt das Schicksal seine Beschlüsse in Erfüllung zu bringen: Hektor, der
Hort Trojas, fällt. Wie kräftig und innig zeigt sich aber in allen Zügen die
Seelenfreundschaft zu Patrollos und der Schmerz inn seinen Tod! Diese rühren⸗
den ja zarten und sogar schwärmerischen Klagen um den Freund bilden einen
Gegensatz von der ergreifendsten Wirkung, indem man sie mitten unter den
Außerungen des kräftigsten Heldenmutes und kriegerischer Wildheit wahrnimmt.
Dise Wirkung wird noch verstärkt und diese innige Freundschaft auf eine eben
so wahre als treffende Art dadurch begrundet, daß Palroklos in demselben Grade
nild und freundlich dargestellt wird als Achilleus heftig und reizbar.
Ba der ersten Nachricht von Patroklos Tod außert sich des Achilleus
Schmerz in der heftigsten Leldenschaft. Er wälzt sich im Staube, und man
fürchtet, er nehme sich selbst das Khen. Als am Abend dieses Tages der Leich—
am des Gefallenen zu ihm zurückgebracht wird, da klagt und jammert er laut,