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umkehren sollen, um die noch gute Jahreszeit zum Rückzuge zu be¬ 
nutzen. Aber sein Geist war verblendet, weil die Vorsehung den Un¬ 
tergang seiner Macht beschlossen hatte. Vergebens wartete er, daß ihn 
Alexander um Frieden bitten sollte, und da dies nicht geschah, so trug 
er selbst den Frieden an; aber Kutusow hielt ihn mit Friedenshoff¬ 
nungen hin, bis der Winter vor der Lhüre war. Indessen war das 
russische Heer von Tage zu Lage stärker geworden, während das fran¬ 
zösische sich täglich durch Krankheiten verminderte, und besonders waren 
die Pferde im kläglichsten Zustande; kaum konnten sie sich selbst schlep¬ 
pen; wie sollten sie also das viele Gepäck, die reiche in Moskau ge¬ 
fundene Beute nach Frankreich bringen? 
Am 19. October verließ Napoleon Moskau, nachdem er besohlen 
hatte, daß der Kreml mit allen dort im Lazareth liegenden russischen 
Verwundeten in die Luft gesprengt werden sollte; zum Glück wurde 
der Befehl nur zum Theil ausgeführt. Zunächst wandte er sich etwas 
südlicher als er gekommen war, um nicht den durch seine Soldaten 
völlig verwüsteten Weg zu ziehen. Aber die Russen warfen sich ihm 
entgegen, und zwangen ihn, auf der alten Straße zurückzukehren. 
Hier drängten sie ihm nach, während auf beiden Seiten ziehende Ko- 
sackenschwärme jede Abweichung von dem Wege der Verwüstung ver¬ 
hinderten, und den entmuthigten und abgematteten Franzosen weder 
Tag noch Nacht Ruhe ließen. Schon in den ersten Tagen mußten 
diese viele Wagen, mit Lebensmitteln und Beute beladen, stehen lassen, 
weil die Pferde sie fortzuschaffen nicht vermochten. Doch hielt die Hoff¬ 
nung die Gemüther noch aufrecht. 
Aber am 6. November umzog sich der Himmel. Dicke Schnee¬ 
flocken sielen herab, und bedeckten den Boden wie mit einem Leichen¬ 
tuche. Der russische Winter nahm seinen Anfang, und überfiel die 
schlechtbekleideten und noch schlechter genährten Soldaten mit allen 
seinen Schrecken. Schaudernd schleppten sie sich fort; ein scharfer, 
schneidender Wind hemmte den Athem, und bildete Eiszapfen, die 
ihnen am Barte um den Mund hingen. Den Meisten schwanden die 
Kräfte; stolperten sie dann, und fielen sie zu Boden, so half ihnen 
Niemand wieder auf; denn Jeder war nur mit seinem eigenen Elend 
beschäftigt, und hatte für den Bruder selbst alles Gefühl verloren. 
Bald bedeckte der Schnee die Gefallenen, und kleine Erhöhungen, wie 
Gräber, bezeichneten die Stellen, wo sie lagen. Der ganze Weg war, 
wie ein Todtenacker, mit solchen Hügeln übersäet. Fürchterlich öde 
war die ganze Gegend; nichts als finstere Tannen unterbrachen die 
Einförmigkeit der wilden Natur. Vielen erfroren die Finger an den 
Gewehren; darum sah man bald ganze Haufen, die ohne Waffen 
marschirten, indem sie in düstrer Verzweiflung auf jede Vertheidigung 
Verzicht thaten. Und wie schrecklich waren erst die langen Nächte von
	        
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