201
Nach dem Tode des Germanicus trat des Tibcrius grau¬
samer, argwöhnischer Sinn offen hervor. Den Majestäts¬
gerichten, die schon unter Augustus bestanden hatten, gab er
die weiteste Ausdehnung, indem jede unvorsichtige Aeußerung
des Unwillens oder Tadels gegen die Person des Kaisers, je¬
der zweideutige Ausdruck mit Martern und Hinrichtung be¬
straft wurde.
Am meisten umstrickte ihn mit gewandten Schmeicheleien
sein Günstling Sejanus, der Befehlshaber der Prätorianer
oder der Leibwache, dessen Herrschsucht dazu beitrug, die Kai¬
sergewalt in völlige Tyrannei zu verwandeln. Auf seinen Vor¬
schlag wurden sämmtliche Abtheilungen dieser Garden in einem
festen Standlager dicht unter den Mauern Roms vereinigt.
Von dieser Zeit an konnte sich der Kaiser dieser Truppen zur
Durchführung jeder gewaltsamen Maßregel bedienen, und der
Befehlshaber dieser Prätorianer ward nach dem Kaiser die
wichtigste und mächtigste Person.
Acht Jahre lang stand der gegen Jedermann argwöhnische
Tiberius unter der Leitung dieses Güiistliiigs, der über den
Kaiser eme wahre Zaubergewalt ausübte. Von ihm ange¬
trieben, ergab sich Tiberius den schändlichsten Lüsten, und um
sic unbewacht befriedigen zu können, zog er sich auf die Insel
Capreä bei Neapel zurück, wo er sich den ärgsten Ausschwei¬
fungen überließ. Inzwischen schaltete Sejanus mit unumschränk¬
ter Gewalt; bereits hatte er des Kaisers Sohn Drusus durch
Gift aus der Welt geschafft, und gegen die Familie des ver¬
storbenen Germanicus wüthete er »ut Verbannung und Ein¬
kerkerung. Seine Bildsäulen standen allenthalben neben denen
der kaiserlichen Familienglieder. Als er aber endlich seine Hand
nuch nach dem Throne ausstrcckte, da gingen dem Tibcrius die
Augen über seinen Günstling auf. Er ernannte den Macro
zum Befehlshaber der Garden, und dieser legte dem Senat den
kaiserlichen Befehl zur Verhaftung des Sejanus vor. Der ge¬
fallene Günstling ward hingerichtct. und Tiberius ließ seine
Kinder, Verwandten und Anhänger in Masse umbringen.
Von nun an machten Argwohn, Mcnschenverachtung, Hab¬