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nern uns wohl, gelesen zu haben, daß man dem Herrn ans freiem Willen
opfern solle, nicht durch irgend einen Befehl gezwungen. Sollte aber Je¬
mand das Gegentheil versuchen, der handelt offenbar den göttlichen Ge¬
boten zuwider."
Allein Jnstinus, ein Werkzeug der strenggläubigen und fanatischen
Geistlichen, ruhte nicht; er suchte auf alle Weise den Samen der Zwie¬
tracht und des Aufruhrs unter die Ostgothen auszustreuen. Dies benutzte
eine feindliche Partei unter ihnen selbst, um durch gehässige Einflüsterun¬
gen das Herz des edlen Theodorich mit Mißtrauen zu füllen; Verläum-
dungeu und Verdächtigungen, denen er nur zu willig sein Ohr zuwandte,
steigerten die gereizte Stimmung. Namentlich wurden ihm der Senator
Symmachus und der treffliche Boethius als Männer bezeichnet, welche
mit dem Kaiser Justinus in Verbindung ständen und des Hochverrathes
schuldig seien. Theodorich glaubte ein warnendes Beispiel jeder Wider¬
setzlichkeit geben und selbst die bisherige Freiheit der christlichen Kirche
seinem Machtgebote unterwerfen zu müssen, um die Religionsstreitigkeiten
völlig zu vernichten; er ließ den Boethius und bald auch dessen greisen
Schwiegervater, Symmachus, hinrichten. Allein die innere Ruhe wurde
dadurch nicht hergestellt. Theodorich selbst starb bald darauf. Es wird
erzählt, daß er in seiner Todesstunde seinem Arzte Elpidius mit gebroche¬
ner Stimme die tiefste Reue über des Boethius und Symmachus Ermor¬
dung ausgedrückt habe.
Seine Tochter Amala-suntha, die er zur Nachfolgerin bestellt
hatte, überlebte ihn nur kurze Zeit. Sie fiel als Opfer der Herrschbegier
ihres Gemahls, des Theudod oder Theodat, Großneffen Theodorich's,
welcher durch diesen Mord zwar auf den Thron erhoben wurde, jedoch
nur, um unter neuen furchtbaren Kämpfen einen frühen gewaltsamen Tod
zu finden; denn der mittlerweile zur Regierung gekommene oströmische
Kaiser Justinianus sandte unter dem Vorgeben, Theodorich's Tochter
zu rächen, Kriegsvölker nach Italien, um das Land den Gothen zu entreißen,
und Theodat wurde bei dieser Veranlassung von den Römern ermordet.
Wie die Poesie die Gestalt des edlen Theodorich aus dieser drang¬
salvollen Zeit hervorgehoben und mit ihrem unsterblichen Lichte verklärt
hat, ist uns nicht fremd geblieben. Wohl ist es ihr rechtmäßiges Amt,
das Gute und Schöne, welches der Sturm der Zeiten in der harten
Wirklichkeit zerstört, mit kräftiger Hand zu fassen und in das Reich der
Phantasie hinüberzutragen, damit es in unverwelklichem Glanze den kom¬
menden Geschlechtern leuchte.