— 121 —
Und rings erfüllte den hohen Balkon
Das Volk in frend'gem Gedränge!
Laut mischte sich in der Posaunen Ton
Das jauchzende Rufen der Menge;
Denn geendigt nach langem, verderblichem Streit
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
Und ein Richter war wieder auf Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr,
Des Mächtigen Beute zu werden.
Und der Kaiser ergreift den golbnen Pokal
Und spricht mit zufriedenen Blicken:
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl,
Mein königlich Herz zn entzücken;
Doch den Sänger vermiss' ich, den Bringer der Lust,
Der mit süßem Klang mir bewege die Brust
Uud mit göttlich erhabenen Lehren.
So hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und gethan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren."
Und sieh! in der Fürsten umgebenden Kreis
Trat der Sänger im langen Talare;
Ihm glänzte die Locke silberweiß,
Gebleicht von der Fülle der Jahre.
Süßer Wohllaut schläft in der Saiten Gold,
Der Sänger fingt von der Minne Sold,
Er preiset das Höchste, bas Beste.
Was bas Herz sich wünscht, was ber Sinn begehrt;
Doch sage, was ist bes Kaisers wert
An seinem herrlichsten Feste?
„Nicht gebieten werb' ich bem Sänger," spricht
Der Herrscher mit lächelnbem Munbe,
„Er steht in bes größeren Herren Pflicht,
Er gehorcht ber gebietenben Stunbe.
Wie in ben Lüften ber Sturmwinb saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt unb braust,
Wie ber Quell aus verborgenen Tiefen,
So bes Sängers Lieb aus bem Innern schallt
Unb wecket ber bunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunberbar schliefen."
Bumüller u. Schuster, Weltgeschichte. 12. Aufl. 6