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Die europäische Türkei. 
„Ich stürze mich nun mitten in den Straßentumult. Vor 
mir liegt eine lange, weite Strecke; da ist Kopf an Kopf, und 
von nahen und fernen Gegenden rauscht mir ein betäubender Volks¬ 
lärm entgegen. Rechts und links eröffnen sich Querwege, welche 
in ganze Labyrinthe von Gaffen führen; auch von daher Getöse 
an allen Ecken. Jede große Stadt ist der Lärm - und Tummel¬ 
platz losen Gesindels aller Art; aber Constantinopel steht hierin noch 
auf einer weit höheren Stufe als Paris und London und selbst 
Neapel. Wie aufgewühlte Wogen eines stürmischen Meeres, so 
braust es mir in die Ohren, und es bietet sich nirgends innerhalb 
des ganzen Gesichtskreises ein Plätzchen dar, wo man der Gefahr 
entrinnen könnte. Welche Fluthen von Menschen wälzen sich hier 
auf und ab! Welch ein Donnergebrüll stürzt da mitten aus ei¬ 
ner dichten, schwarzen Pöbelwolke! Man denke nicht, daß dieser 
betäubende Lärm nur in den der großen Rhede zunächst liegenden 
Straßen statt habe; nein! von welcher Seite man auch die 
Stadt betreten mag, immer kommt man zu einem gleichgroßen 
Gewühlt, wie tausend nie vorhergesehene Gegenstände das Auge 
fesseln, tausend Stimmen das Ohr umschallen. Man mag noch 
so sehr vorher bei sich erwogen haben, daß eine so entfernte, un¬ 
ter einem andern Klima liegende, von einem uns so ungleichen 
Volke bewohnte Stadt sich von unsern deutschen Städten ganz 
unterscheiden müsse: dennoch übersteigt die Wirklichkeit tausendmal 
alle Erwartung, und man erblickt sich in einer völlig unbekannten 
Sphäre, in welcher man alle vorher so sorgfältig gebildete Be¬ 
griffe nach und nach aufzugeben genöthigt ist. Kaum merkt man 
es unter dem Gewühl, daß cs bergan geht, und doch steigen wir 
immer höher. Wie viele Gassen und Gäßchen sind zwischen uns 
und dem Hafen! Welch ein Anblick von hier auf die tiefer lie¬ 
genden Quartiere der Stadt! Man sollte denken, es wären Tage 
erforderlich, um sich aus diesen zahllosen Zrrgängen heraus¬ 
zuwinden. Aber eben diese Ungleichheit des Bodens, diese Unre¬ 
gelmäßigkeit der Straßen, diese tausend einander durchkreuzenden 
Wege, diese von der unsrigen so heterogene Bauart, diese so ver¬ 
schiedenen Häusergcstalten, die nirgends so mannigfaltig sind wie 
hier, wo jeder seiner Phantasie folgen kann, diese zahlreichen im¬ 
mer grünenden Gärten mitten innerhalb dieser unübersehbaren 
Welt von Wohnungen und Pallästen, diese hohen Mauern und 
bunten Hütten, selbst dieses Durcheinanderschlingen der namenlo¬ 
sen Gassen und Gäßchen giebt einem Spatziergange durch Con¬ 
stantinopel etwas Romantisches, das man in unsern Städten 
nicht findet. Allein selbst das Gewühl auf den Straßen ist von 
ganz anderer Beschaffenheit als bei uns. Kutschen und Wagen, 
wie die unsrigen, giebt es in der türkischen Hauptstadt nickt. 
Alle Mannspersonen reiten hier, aber nicht wie unsere jungen 
Europäer im starken Trabe, sondern gravitätisch langsam, so daß
	        
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