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giebt den Alpenpflanzen und Moosen des Hochgebirges in sol¬
cher Fülle zu trinken, dass kaum die Mittagssonne die perlenden
Tropfen hinwegnimmt. Nur da, wo kein Kraut mehr gedeihen
kann, in den kalten Höhen, wohin sich nur Luftschiffer und
kühne Gebirgsbesteiger erheben, scheint das Wasser seiner haus¬
mütterlichen Mühen und Sorgen entbunden zu sein; dort kommt
es nur wenig hin, die Luft ist da wasserleerer als anderwärts.
Wie im Schoosse der Mutter sind im Wasser die zartesten,
feinsten Thierarten geborgen, die Polypen, welche die Korallen¬
gebäude anlegen, und die vielen Arten der gallertartigen Schei-
benthiere (Quallen). —
Wasser giebt es freilich viel auf Erden; denn mehr als drei
Viertheile ihrer Oberfläche sind vom Meere bedeckt, und Ströme,
See’n und Sümpfe finden sich in den verschiedenen Ländern in
grosser Zahl. Dennoch kommt dieses wohlthätige Element den
Landthieren, die nach ihm dürsten, nicht so von selber entgegen
wie die Luft, die sie athmen, sondern es muss von ihnen oft in
weiter Ferne mühsam gesucht werden; denn das dampfförmige
Wasser, das in der Luft schwebt, stillt ihren Durst nicht, und
das salzige Wasser des Meeres ist meist für sie ungeniessbar.
Aber dazu hat der Vogel seine Flügel, das vollkommnere Land¬
thier seine rüstigen Füsse empfangen, dass es mit Hülfe dersel¬
ben das aufsuchen kann, was ihm fehlt. In wenig Minuten ist
die Schwalbe, die in den Felsenritzen des steinigen Arabiens ni¬
stet, wenn sie der Durst treibt, bei der Lache angelangt, in der
sich von der Regenzeit her noch einiges Wasser erhalten hat;
die Heerden der schnellfüssigen afrikanischen Gazellen ziehen
von einem Landstrich zum andern dem Regengewölk nach, wenn
dieses jetzt hier, dann dort seine Wasser ergiesst, und jeden
Morgen und jeden Abend finden sie von der fernen Weide her
am Tränkplatz sich ein.
Viel anders als bei den Thieren verhält es sich bei den Ge¬
wächsen des Landes. Diese können nicht von ihrem Orte hin¬
weg, um nach dem Wasser zu suchen; sie müssen abwarten, bis
dieses ihnen selber entgegenkommt. Und dennoch bedürfen sie
des Wassers noch viel mehr, als die Thiere. Diese finden zum
Theil schon in ihrem Futter Säfte, die ihren Durst stillen kön¬
nen, der Raubvogel im frischen Fleisch und Blut der erbeuteten
Thiere, der Stier und die Gemse in den Stengeln und Blättern
der Kräuter. Bei der Pflanze dagegen ist das Wasser nicht blos
eine Zugabe zur Speise, sondern es ist für sie ein Hauptnahrungs¬
mittel selber, wie für den Säugling die Muttermilch. Wie übel
wäre dieser daran, wenn er seine Nahrung selber aufsuchen
müsste, er, der nicht stehen, noch gehen kann, und der es ab¬
warten muss, dass die Mutter ihn tränkt! — So wird auch den
Pflanzen die Nahrung gebracht. Das flüssige Wasser des Bodens
dringt in ihre feinen Wurzelfasern ein; vielen Gewächsen genügt
auch das dampfförmige Wasser, das in der Atmosphäre schwebt.
Wie die Hausmutter ungerufen ihrem Säugling naht, so kommt
das Wasser aus der Luft herab den Pflanzen entgegen. Wo viel