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zeigt der Gletscher neue Schönheiten, aber auch neue Gefahren. Herrlich schim¬
mert im Sonnenglanz das Eis in rother, blauer und grüner Farbe. Beraauf,
bergab schreiten wir stundenlang über den Firn fort, wobei die Fußtapfen oft
mit der Axt vorher gehauen werden müssen, damit wir nicht gleiten; auch die
Leiter wird nicht selten gebraucht, um steile Vorsprünge zu erreichen. Hier und
da erscheinen hohe Kuppen von Eis, die im Sonnenlicht wie blankes Silber
leuchten. Da öffnet sich vor uns ein breiter, tiefer Schlund; wir vermögen
nicht, das Ende des Eises in der Tiefe zu erspähen, wo weit unten Schnee-
waffer zu rauschen scheint. Von Eis hat sich an einer Stelle eine Brücke dar-
über gewölbt; aber sie ist so schmal, daß der Fuß kaum Raum hat, und doch
müssen wir sie überschreiten. Neue Schönheiten entfalten sich vor unsern Blik-
ken. Hier erheben sich eine Menge hoher Kuppen, deren von Eis gebildete
lange, spitze, durchsichtige Nadeln im Sonnenlichte herrlich flimmern; dort ste¬
hen runde Eispyramiden, die mit einem Steine wie mit einem Hute bedeckt
sind; unsere Führer nennen sie Gletschertische. Viele Bäche rauschen in blauen
EiSrinnen dahin, versenken sich oft in tiefe Eisschichten und fließen unter der
Oberfläche, nur dem Ohre vernehmbar, weiter fort. Links und rechts fassen
himmelanstrebende Wände den Gletscher ein. Da auf einmal vernehmen wir
aus weiter Ferne ein donnerähnliches Getöse. Wir erbeben und wenden uns
erschreckt an unsere Führer, um die Ursache jenes fürchterlichen Krachs zu er¬
fahren. Diese sagen uns, es müffe irgendwo im Gletscher ein neuer Riß ent¬
standen, oder ein Eisgewölbe, das sich in der Tiefe durch Wasser gebildet, zu-
sammengestürzt sein.
Wir erklimmen nun eine der höheren Bergspitzen; der Weg ist beschwer¬
lich; die Luft wird immer kälter und dünner; dabei ist sie hell und klar; unseo
Puls geht schneller; das Herz klopft rascher. Nach mehrstündiger, gefahrvoller
Wanderung haben wir den Gipfel erreicht.
Aber welch eine Aussicht! Alle Mühen sind vergessen; denn ein unbeschreib¬
lich schöner Genuß belohnt sie tausendfach. Eine unermeßkich weite Welt liegt
ausgebreitet vor unsern Blicken. Zahllose Bergketten, umlagert von waldigen
Vorbergen, weite Schneefelder, aus denen die mit Eis bedeckten glänzenden
Spitzen hoher Granitfelsen hervorragen, tiefe Schluchten, wunderbar gestaltete
Felsengrate, fruchtbare Alpenweiden, herrliche See'n, blühende Thäler, übersäet
mit Städten und Dörfern, Bäche und Ströme, die im Thal als blaue Streifen
erscheinen» und alle die mannigfaltigen Naturwunder, welche das Alpengebirge
darbietet, wechseln bunt mit einander ab. Da wird's dunkler im Thale; wäh¬
rend der Himmel über uns klar und tief ist, ziehen sich unter uns dichte Ne¬
bel zusammen, und wir erfahren von den Führern, daß es für die im Thale
schwere Gewitterwolken sind. Der unter uns rollende Donner, die sich kreu¬
zenden Blitze bestätigen bald ihre Behauptung. Wir sehen dem erhabenen Schau¬
spiele zu, ohne zu erschrecken; denn Donner und Blitz haben hier keine Gewalt
über uns. Endlich zerreißt das Wolkenmeer unter uns; bald ist das Gewölk
gänzlich verschwunden und die Luft ebenso klar und rein unter uns, wie über
uns. Da tönt abermals ein Donner an unser Ohr; unser Auge folgt unwill¬
kürlich seinem furchtbaren Schalle; eine Lawine rollt unaufhaltsam von einem