70
erfrornen Kindern in die Stube. — „Da bring' ich euch die Kinder!" — Der
Kaufmann sah den Polen cnrios an. „Was soll ich mit diesen Kindern thun?
Wem gehören sie? Wer schickt euch zu mir?" — „Niemand gehören sie", sagte
der Pole, „einer todten Frau im Schnee, siebenzig Stunden herwärts Wilna.
Thun 'könnt ihr mit ihnen, was ihr wollt." Der Kaufmann sagte: „Ihr wer¬
det nicht am rechten Orte sein." Allein der Pole erwiederte, ohne sich irre
machen zu lassen: „Wenn ihr der Herr Charles seid, so bin ich am rechten
Ort." Er war der Herr Charles. Nämlich es hatte eine Französin, eine Wittwe,
schon lange im Wohlstände und ohne Tadel in Moskau gelebt. Als aber vor
Jahren die Franzosen in Moskau waren, benahm sie sich landsmannschaftlicher
gegen sie, als den Einwohnern wohlgefiel. Denn das Blut verleugnet sich
nicht, uno nachdem sie in dem großen Brande ebenfalls ihr Häuslein und ih¬
ren Wohlstand verloren und nur ihre fünf Kinder gerettet hatte, mußte sie,
weil sie verdächtig sei, nicht nur aus der Stadt, sondern auch aus dem Lande
reisen. Sonst hätte sie sich nach Petersburg gewendet, wo sie einen reichen
Vetter zu finden hoffte. Der geneigte Leser will bereits etwas merken. Als
sie aber in der schrecklichen Kälte und Flucht und unter unsäglichen Leiden schon
bis nach Wilna gekommen war, krank und aller Bedürfnisse und Bequemlichc-
keiten für eine so lange Reise entblößt, traf sie in Wilna einen edlen russischen
Fürsten an und klagte ihm ihre Noth. Der edle Fürst schenkte ihr dreihundert
Rubel, und als er erfuhr, daß sie in Petersburg einen Vetter habe, stellte er
ihr frei, ob sie ihre Reise nach Frankreich fortsetzen, oder ob sie mit einem
Paß nach Petersburg umkehren wolle. Da schaute sie zweifelhaft ihr ältestes
Büblein an, weil es das verständigste und kränkste war. „Wo willst du hin,
mein Sohn?" — „Wo du hingehst, Mutter", sagte der Knabe — und hatte Recht.
Denn er ging noch vor der Abreise in's Grab. Also versah sie sich mit dem
Nothwendigen und accordirte mit einem Polen, daß er sie für fünfhundert
Rubel nach Petersburg brächte zum Vetter; denn sie dachte, er wird das Feh¬
lende schon darauf legen. Aber alle Tage kränker auf der langen, beschwerli¬
chen Reise, starb sie am sechsten oder siebenten. — „Wo du hingehst", hatte
der Knabe gesagt, und der arme Pole erbte von ihr die Kinder, und konnten
miteinander so viel reden, als ein Pole verstehen mag, wenn ein französisch
Kind russisch spricht, oder ein Französlein, wenn man mit ihm reden will auf
polnisch. Nicht jeder geneigte Leser hätte an seiner Stelle sein mögen. Er
war es selber nicht gern. „Was anfangen jetzt?" sagte er zu sich selbst. „Um¬
kehren — wo die Kinder lassen? Weiter fahren — wem bringen?" Thue, was
du sollst, sagte endlich Etwas in seinem Inwendigen zu ihm. Willst du die
armen Kinder um das Letzte und Einzige bringen, was sie von ihrer Mutter
zu erben haben, um dein Wort, das du ihr gegeben hast? Also kniete er mit
den unglücklichen Waisen um den Leichnam herum und betete mit ihnen ein
polnisches Vater Unser. „Und führe uns nicht in Versuchung!" Hiernach ließ
jedes ein Händlein voll Schnee zum Abschied und eine Thräne ans die kalte
Brust der Mutter fallen, nämlich, daß sie ihr gerne die letzte Pflicht der Beer¬
digung anthun wollten, wenn sie könnten, und daß sie jetzt verlassene, unglück¬
liche Kinder seien. Hernach fuhr er getrost mit ihnen weiter auf der Straße