Full text: [Teil 2 = Kl. 6 u. 5] (Teil 2 = Kl. 6 u. 5)

großen Tafel; aber was für Herrlichkeiten sind auch darauf zu finden! 
Für den Falken, für die große Seemöwe, für den Austernfischer und 
andere ansehnlichere Vögel schleicht dort der fette Tafchenkrebs über den 
Sand, und seitwärts gehende Krabben suchen eine Wasserrinne zu er¬ 
reichen, oder es zappelt der platte Butt und der silberweiße Stint, von 
der Ebbe überrascht, auf dem Trocknen, und Muscheln klaffen in Menge. 
Für Seeschwalben, Kiebitze und Regenpfeifer wimmelt es in den Rinnen 
von Garnelen, und für die ganz kleinen Strandläuferarten findet sich 
noch Gewürm in Unzahl, und so wiederholt sich die ganze große Atzung 
in bester Ordnung, Tag für Tag zweimal, jahraus und jahrein. 
Aber auch der Mensch eilt herbei, wenn das Watt bloß liegt, um 
teilzunehmen an dessen Gaben. Dort sieht man barfuß und hochgeschürzt 
Männer und Frauen in den Rinnen waten, kleine Netzhamen vor sich her¬ 
schiebend, die sie dann und wann in umgehängte Beutel leeren. Diese 
fangen die kleinen, wohlschmeckenden Krebse, Garnelen, hierzulande 
„Granat" genannt, die mit Salz abgekocht eine Delikatesse zum Früh¬ 
stück und Nachtisch ausmachen und nach allen Städten und Hasenorten 
der Gegend verschickt werden. Andere fangen in diesen Lachen und 
Rinnen den Butt, einen Hauptfisch des Brackwassers. 
Bei schönem, warmem Wetter sieht man auf dem Lande nicht selten 
Seehunde sich behaglich sonnen. Man beschleicht sie mit guter Büchse unter 
dem Winde. Früher waren sie noch viel häufiger, und die Wurster 
suchten sie sogar im Schlafe zu überfallen und mit Knütteln zu erschlagen 
ganz wie in den Polarländern. 
Nur mit großer Umsicht und genau die Zeit beachtend, kann man 
sich weiter aufs Watt hinauswagen, und mancher mußte schon seine 
Unvorsichtigkeit oder Kühnheit mit seinem Leben bezahlen; denn wehe dem, 
der noch weit vom höheren Lande entfernt ist, wenn die Flut eintritt! 
Eben vorher kann noch alles weit und breit still und ruhig sein — 
kommt der Augenblick der Flut: es erhebt sich ein frischer Wind, 
das Wasser sängt an zu rauschen, zu schwellen, zu tönen. Jetzt schießt 
es heran, schneller, immer schneller, rauschender, gieriger, brausender — 
und nun kann kaum ein Reiter auf schnellem Rosse der gierig heran¬ 
wühlenden Flut entfliehen. Sicher verloren und dem entsetzlichen, all¬ 
mählichen Ertrinken verfallen ist der arme Fußgänger. Er eilt atemlos 
dem Lande zu, schon dringt die wütende Flut durch alle Rinnen, und 
in dem weiten Labyrinth verirrt er sich äußerst leicht. Schon strömt 
das Wasser über den eilenden Fuß, schon erreicht es das Knie, in grauen¬ 
vollster Angst eilt er weiter; aber seine Eile wird gehemmt, denn die 
-Juten netzen jetzt schon den Gürtel des Unglücklichen, und soweit er 
späht, vielleicht alles eine wildrauschende Wasserwüste, die Menschen 
hören und sehen ihn nicht, sie wohnen fern und hinter ihren sicheren 
Deichen; jetzt ergibt er sich stumpf hinstarrend in sein Schicksal, denn 
Tesch, Lesebuch für Mittelschulen. II. ' Iß 
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