Full text: Lesebuch für die evangelischen Volksschulen Württembergs

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es ist doch nur ein körperlicher Schmerz; hat er aber einmal Frau und Kin¬ 
der, dann brennen ihm die Thränen, die der Hunger seinen Lieben auspreßt, 
wie Feuer auf die Seele, die Noth wird dann ein den innern Menschen fest 
erdrückender, Herz durchbohrender Schmerz. 
In dieser Lage war der arme H. Die gute Frau, von langer Noth 
und Kummer krank, das Töchterchen, die einzige Person in der Familie, die 
seit einigen Tagen ein wenig Brod bekommen hatte, auf der Thürschwelle 
sitzend und vor Hunger weinend. Der Vater, der wohl vor Mattigkeit kaum 
mehr aufrecht stehen konnte, drängt sein bleichgehärmtes Gesicht ans Fenster 
und steht hinaus. Aber draußen war finstere Nacht und sehr starker Regen 
und Sturm; in seinem Herzen sprach es immer: ohne Hülfe, ohne Hülfe! Da 
wurde das geängstete, zerschlagene Herz auf einmal von seinen Banden frei, 
es konnte recht innig und mit tausend milden Thränen zu dem flehen und 
um Hülfe seufzen, der unsere Zuversicht und Zuflucht noch sein will, wenn 
keine Menschenhülfe mehr nützen kann. — Aber wer soll ihm denn noch 
heute, und sein Herz mußte in dieser äußersten Noth bitten „noch heute", in 
diesem Regenwetter und Sturnr Brod bringen? 
Da kommt auf einmal noch Jemand auf der finstern, steilen Treppe 
herauf, sucht an der Thüre, es war der Hausknecht aus dein gegenüberstehen¬ 
den Gasthof. Ein dort liegender Fremder hatte einen Schneider begehrt, 
der ihm schnell, noch in dieser Nacht, ein Paar Beinkleider fertigen sollte; 
der Hausknecht hatte in dem schlimmen Wetter nicht erst wett nach einem ihm 
bekannten Meister gehen mögen und ries denn den armen H. 
Da dieser zu dem Fremden in seiner armen Kleidung und mit seiner von 
langem Kummer schüchtern gewordenen Miene hineintritt, mißt ihn der mit 
großen Augen, fragt ihn, ob er sichs wohl getraue, das verlangte Kleidungs¬ 
stück zu fertigen, er (der Fremde) sei überaus eigensinnig, und ihm habe noch 
kaum ein berühmter Meister Kleidungsstücke dieser Art zur vollen Zufrieden¬ 
heit, und doch auch mit der nöthigen Bequemlichkeit gefertigt. Das dazu 
bestimmte Tuch sei sehr fein und theuer, es sei deßhalb sehr schade, wenn 
es verdorben würde, er wolle ihm lieber einige Groschen dafür geben, 
daß er sich herbeurüht habe und einen andern Meister rufen lassen. Der 
arme, in seinem Handwerk wirklich geschickte H. fühlt sich über jenen 
Mangel an Zutrauen tief gekränkt, versichert, er wolle den Fremden 
wohl zufriedenstellen, und dieser gibt ihm das Tuch, mit der Aeußerung: 
nun, er wolle das nur einmal an eine sehr wahrscheinlich mißlingende 
Arbeit wagen. 
Die Liebe gibt dem armen, aus Hunger sehr müden H. Kraft, die ganze 
Nacht durchzuarbeiten. Er fitzt ja bei dem Bette seiner lieben Frau und
	        
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