Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Abtheilungen ein- und mehrklassiger Elementarschulen in der Stadt und auf dem Lande

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wieder abgesetzt. So haben wir ohne Zweifel durch Strichvögel schon manche 
Pflanze aus fremden Gegenden bekommen, die jetzt bei uns daheim ist und guten 
Nutzen bringt. So gehen auf hohe» Gemäuer» und Thürmen Kirschbäume und 
andere auf, wo gewiß kein Mensch den Kern hingetragen hat. Noch andere fallen 
von den überhangenden Zweigen ins Wasser, oder sie werden durch Wind oder Ucber- 
schwemmungen iu die Ströme fortgerissen und an anderen Orten wieder abgesetzt. 
Ja, einige schwimmen auch wohl auf den Strömen bis inö Meer, erreichen das 
jenseitige Gestade und keimen sich alsdann in einer landesfremden Erde ein. 
Höchst merkwürdig ist die Jerichorose. Diese kleine Pflanze wächst in den dürrsten 
Wüsten. Gegen das Ende ihres Lebens wird ihr Gewebe fast holzig, ihre Zweige 
schlagen sich nach innen, einer über den ändern ein. Die Klappen ihrer Schötcheu 
sind geschloffen, und das Gewächs haftet nur mit einer einfachen Wurzel int 
Boden fest. In diesem Zustande wird die fast zu einer Kugel gewordene Pflanze 
vom Winde aufgerissen und fortgerollt. Geräth sie in eine Pfütze, so wird dèe 
Feuchtigkeit von dem Holzgcwebe schnell cingcsogen; die Fruchthüllen öffnen sich, 
und eS kommt eine Pflanze hin, wo früher keine der Art war. So oft man diese 
trokkene Kugel ins Wasser setzt, so erschließt sie sich nach weniger, als einer Viertel¬ 
stunde, zu einer weit ausgebreiteten, viel verzweigten Pflanze, an der Hundert von 
sich öffnenden Samenkapseln die Stelle der Blätter vertreten. Nimmt man das 
zierliche Gewächs aus dem Wasser, so stellt es sich nach wenigen Stunden wieder 
als eine trokkene Kugel d»r, die nicht bloß eine Reihe von Jahren, so oft man 
rö begehrt, ihre verborgene Lebenskraft stets von Neuem offenbart, sondern selbst 
nach Jahrhunderten dieselbe noch in sich bewahrt, wie eö sich an einer in den 
Zeiten der Kreuzzüge nach Deutschland gebrachten Jerichorose erwiesen hat. Also 
müssen alle Kräfte und Elemente die wohlthätigen Absichten des Schöpfers 
befördern, Schnee und Regen, Blitz und Hagel, Sturm und Winde feine Befehle 
ausrichten. 
Die »leisten Pflanzen haben eine wunderbare VermehrunaSkraft. Taufend 
Samcnkerne von einer einzigen Pflanze, so lange sie lebt, ist zwar schon viel 
gesagt, nicht sede trägtS; aber es ist auch noch lange nicht das Höchste. Man 
hat schon an einer einzigen TabakkSstaude 300000 Körnlein gezählt, die sie in 
einem Jahre zur Reife brachte, und an einer Ulme sind gar 520000 Samenkörner 
gefunden worden. 
Das Wachsthum der Pflanzen ist eine Folge der Ernährung, indem an und 
zwischen den vorhandenen Theilen der Pflanze neue erzeugt werden. Das Wachs¬ 
thum geht theils in die Länge, theils in die Dikke. — In jedem Jahrestriebe 
kämpfen zwei entgegengesetzte Triebe mit einander. Durch den aufsteigenden Saft 
nämlich wird der Schößling verlängert, und zwar um so mehr, je wässriger er 
ist und je weniger er das Gewebe des Schößlings fester macht. Auf der andern 
Seite macht der absteigende Saft, der unterwegs Nahrungsstoffe absetzt, aus 
welchem Holz erzeugt werden kann, den Schößling fester und setzt seinem WachS- 
thume in die Länge Schranken. Letzteres findet spätestens am Ende des Jahres 
statt. Nach diesem Zeitpunkte wächst ein Zweig oder Stengel nicht mehr, und 
die Pflanze verlängert sich nur durch Hinzukommen eines neuen Triebes. 
Es giebt viele Bäume, die wegen ihrer außerordentlichen Dikke berühmt sind. 
Der Umfang eines KastanienbaumeS am Aetna soll 160 Fuß betragen. Ein 
Flaumbaum (ostindischer Wollbaum) konnte von 5 Männern mit Mühe umspannt 
werden; er mußte also 75 Fuß im Umfange und 20 —25 Fuß im Durchmesser 
haben. Ein neuerer Reisender will 3 Stunden von Konstantinopel einen Platancn- 
baum gesehen haben, der 90 Fuß hoch war, und dessen Stamm 150 Fuß Umfang 
hatte. Im Dorfe Oppeln bei Wehlau in Ostpreußen befand sich in früherer Zeit
	        
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