§ 13. Die Kirche in dieser Zeit.
355
dem Gelehrtenftande der Geistlichen regte sich in dieser
Periode ein mächtiger Stndireifer. Abcr^die Wenigsten
giengen an die rechte Quelle, die heil. Schrift. Man
hatte schon lange her der Bibel die Tradition oder
mündliche Ueberlieferung an die Seite gesetzt; die
Apostel, sagte man, hätten nicht alles niedergeschrieben,
was zur Seligkeit nöthig sei, ihre ganze Lehre habe sich
nur mündlich von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt,
und ans dieser mündlichen Ueberlieferung müsse die
Schrift ergänzt werden. Es hielten sich aber jetzt die
Gelehrten nach der großen Menge lediglich an die Tra¬
dition, und diese war in der That nichts anders als
die Kirchen lehre, wie sie sich mit der Zeit gestaltet
hatte, mit allen ihren Irrthümern. Und das war nun
die Arbeit der Gottesgelehrten, die verfälschte Kir¬
che n l e h r e wissenschaftlich darzustellen und z n
begründen. Und wie thaten sie es? Mittelst der
alten he idnischen Philosop hie, namentlich der des
Aristoteles (s. B. 1, S. 239). In seine Logik zwäng¬
ten sie die kirchlichen Lehren und suchteil damit die schöne
Zusammenstimmung derselben, woraus ihre vollkommene
Richtigkeit erhelle, nachzuweisen. So wurde Aristote¬
les ein berühmterer Mann in der Kirche als der Apo¬
stel Paulus. Diese Theologie nannte man „Scho¬
lastik", d. h. Schultheologie, weil sie vornehmlich
ans den gelehrten Schulen getrieben wurde, und die sie
betreibenden Theologen darum „Scholastiker." Es
gab ausgezeichnete Gelehrte unter ihnen, wenn man auf
die Kunst sieht.
Einer der Besten unter den Scholastikern war An¬
selm (Anshelm), Erzbischof von Canterbury (ch 1093),
bei dem man nicht blos große Verstandesschärfe, sondern
auch noch einen tiefern Sinn und lebendiger» Glauben
wahrnimmt. Er hat, kann man sagen. Me- erste Dog¬
matik oder wissenschaftliche G l a » be p s leh re ge¬
schrieben in seinem berühmten Werke: „Cor cieus homo?“
(Warum ist Gott Mensch geworden?)