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109. Das Lied vom Sterben.
1. Stimmt an das Lied vom Sterben, den ernsten Abschiedssang;
vielleicht läuft heut zu Ende dein irdischer Lebensgang, und eh' die
Sonne sinket, beschließest du den Lauf, und wenn die Sonne steiget,
stehst du nicht mit ihr auf.
2. Es giebt nichts Ungewiss'res, als Leben, Freud' und Not, allein
auch nichts Gewiss'res, als Scheiden, Sterben, Tod. Wir scheiden von
dem Leben bei jedem Lebensschritt; uns stirbt die Freud' im Herzen,
und unser Herz stirbt mit.
3. An unserm Pilgerstabe ziehn wir dahin zum Grab, und selbst
des Königs Zepter ist nur ein Pilgerstab. Ein Pilgerkleid hat allen
die Erde hier beschert; wir tragen's auf der Erde und lassen's aus
der Erd'.
4. Geh, übersteig nur Berge und Höh'n, es steht dir frei; den
kleinen Grabeshügel kommst du doch nicht vorbei. Da gehst du nicht
hinüber, und ist er noch so klein; da bleibst du müde liegen, da legt
man dich hinein.
5. So sing das Lied vom Sterben, das alte Pilgerlied, weil deine
Straße täglich dem Grabe näher zieht. Laß dich es mild und freund¬
lich wie Glockenton umwehn, es läute dir zum Sterben, doch auch zum
Auferstehn. Philipp Spitta.
110. Luther beim Tode seines Töchterleins.
Magdalenchen, Luthers liebes Töchterlein, lag einstmals sehr krank
darnieder. Das betrübte den Vater tief, und er betete, da er bei ihr
am Bette saß: „Ich habe sie sehr lieb; aber, lieber Gott, weil es dein
Wille ist, daß du sie hinwegnehmen willst, so mag ich sie auch gerne
bei dir haben!" Darnach wandte er sich zu seiner Tochter und sagte
zu ihr: „Leuchen, mein Kind, du hast noch einen Vater in dem Himmel,
zu dem wirst du gehen; du bleibest gerne hier bei deinem Vater, und
ziehest auch gerne zu jenem Vater, nicht wahr?" Sie sprach: „Ja,
lieber Vater, wie Gott will!" Da sagte der Vater: „Du mein liebes
Kind, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach!" und wandte
sich herum und weinte sehr; fuhr dann fort: „Ich habe sie ja sehr lieb;
aber wir leben, oder wir sterben, so sind wir des Herrn!" Als Leuchen
in den letzten Zügen lag und nun sterben wollte, fiel der Vater auf
seine Kniee am Bette, weinte bitterlich und betete, daß sie Gott wolle
erlösen. Indem kommt ihr Bruder, der damals an einem entfernten
Orte in die Schule ging. Nach diesem hatte sie sehr verlangt, also
daß der Vater ihn hatte auf einem Wagen holen lassen. Wie sie ihren
Bruder sieht, entschläft sie in des Vaters Armen, eines Morgens um
9 Uhr, gleichsam als sagte sie:
Mit Fried' und Freud' in guter Ruh
Fröhlich thu' ich mein' Augen zu
Und leg' mich schlafen in mein Grab,
Weil ich den Bruder gesehen hab'.