Full text: Prosaheft Nr. 1 für die Klasse III (Prosaheft Nr. 1, [Schülerband])

M. M. v. Weber, Eine Winternacht auf der Lokomotive. 9 
aufzuschimmern begannen. Die Dampfpseife ertönt, und gleich darauf 
poltert der Zug unter das überhängende Dach des Bahnsteigs. 
Eilend umschreitel der Führer hier seine Lokomotive, indem er ihre dicht 
mit Schneeschlicker bedeckten Teile prüsend beleuchtet, von denen er oft 
mit der Hand erst die kalte Decke wegstreichen muß, um sie sehen zu 
können. Da ruft der Stationsbeizer, der inzwischen unter der Maschine 
mit dem Ausharken der Schlacken aus dem Roste der Feuerung be¬ 
schäftigt ist: „Herr Zimmermann, der Rost des Greif ist heute so dick 
verschlackt, ich komme nicht durch damit in den vier Minuten Aufent¬ 
halt!" Rasch springt der Führer, mit dickem Pelze und Mütze ange¬ 
than, in die Schürgrube hinab, packt die schwere Feuerkrücke mit, und in¬ 
dem er sie in die weißglühende Feuermasse des Rostes hineinstößt, arbeitet 
der schwerbekleidete Mann angestrengt und hastig, bis das Feuer wieder 
in regelrechtem Zustande ist. Nach wenigen Minuten steigt er keuchend 
und schweißtriefend aus der Grube. — „Abfahrt!" ruft der Ober¬ 
schaffner. Es läutet. Aus die Maschine klimmt der Mann, dessen 
Lungen noch von der Anstrengung atmend fliegen und dem der Schweiß 
unter der Pelzmütze vorrieselt. 
Pfeifen! — und hinaus geht es wieder unaufhaltsam in die eises¬ 
kalte Schneesturmnacht, die mit fünfzehn Grad kalter, schneidender Zug¬ 
luft die schweißgelränkten Haare in wenigen Sekunden in starrende Eis¬ 
nadeln verwandelt. 
Vorwärts! Vorwärts! 
v. 
Der Sturm hat aufgefrischt. Von den großen Flächen der Damm¬ 
böschungen jagt er den staubartigen, setzten, kalten Schnee empor, der 
auf der Bahn wie in wilden Wogen dahinjagt und, hoch über den 
Schornstein hinwirbelnd, die stillen Männer mit immer neuen Fluten 
von stechenden Eisnadeln überströmt oder sich an windstillen Orten 
heimtückisch zu lockeren Windwehen zusammenlagert. Im voraneilendeu 
Lichte der Lokomotivlaternen prallen diese plötzlich wie weiße, über die 
Bahn liegende Mauern gespenstisch aus der Nacht empor und jagen 
dem beherztesten Führer jedesmal, wenn er mit seiner Lokomotive in die 
weiche, unheimliche Masse hineinstürmt, einen Schauder durch die Seele. 
Hoch bäumen sie sich vor der wild durchbrechenden Maschine auf und 
überschütten sie mit solchen Schneemassen, daß die Männer auf derselben 
sich am Geländer festhalten .müssen, um nicht durch ihren wuchtigen 
Schlag herabgeschleudert zu werden. — 
„Es schneit stark!" sagen die Reisenden, die im Wagen einen 
Augenblick erwachen und, sich streckend, ein Fenster, an das sie den 
Schnee knisternd anschlagen hören, mit der Wagenquaste zu säubern 
suchen. „Wir fahren schlecht," fügen sie, unter Gähnen nach der Uhr 
sehend, hinzu; „furchtbar beschwerlich, das Nachtreisen im Winter!" —
	        
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