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Dieb und gedachte, die Leutes, die in dem Hause wohnten, zu be—
stehlen.
Nachdem er durchs Fenster hineingekrochen war, befand er sich in
iner leeren Kammer, dicht daneben war die Wohnstube der Hausbewohner.
Die Thur, die in dieselbe hineinführte, var nicht verschlossen, sondern
nur leieht angelehnt.
Der Dieb wulste, dass die Leute auf den Jahrmarkt gegangen waren,
dachto aber, es könnte doch vielleicht jemand in der Stube sein, legte
daher das Ohr an die Tuürspalte und horchte.
Drinnen hörte er ein Kind laut sprechen, und wie er durchs
Schlusselloch guckte, san er beim Dämmerscheine, dals es ganz allein mit
gefalteten Händen in seinem Bettehen sals. Das Rind betete, wie es
immer vor dem Einschlafen that, laut sein Vaterunser. —
GSehon sann der Mann daruber naeh, wie er seinen Diebstahl am
besten ausführe; da hörte er, wie das Kind mit lauter, Klarer Stimme
eben die Worte beteteé: „Und führe uns nicht in Versuebung, sondern
erlõöse uns von dem Ubel!“
Das ging dem Manne tief zu Herzen, und sein Gewissen erwachte.
Er fuhlte, wie schwer die Sünde sei, die er eben hatte begehen vwollen.
Da falteten sich auch seine Häànde, und auebh er betete inbrünstig fur
sich: „Fuhre uns nicht in Versuchung, sondern erlöss uns vom UÜbel!“
und der liebe Gott erhörte ihn.
Auf demselben Wege, den eêr gekommen, schlich er wieder nach
Hause. Er bereute von ganzem Herzen sein bisheriges Leben, bat Gott
um Verzeihung und dankte ihm, dasls er ihn durech das Gebet des Rindes
auf einen bessern Weg gefübrt hatte.
Er ist darauf ein arbeitsamer und ordentlicher Mensch geworden.
Roiniok.
152. Abendfeier.
1. Wie ist der Abend so traulich,
wie lächelnd der Tag verschied,
wie singen so herzlich erbaulich
die Vögel ihr Abendlied!
2. Die Blumen müssen wohl schweigen,
kein Ton ist Blumen beschert;
doch stille Beter neigen
sie alle das Haupt zur Erd'.
3. Wohin ich gehe und schaue,
ist Abendandacht. Im Strom
spiegelt sich auch der blaue,
prächtige Himmelsdom.