B. II. A. 4. Annette v. Drofte-Hülshoff. 
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Größere Aufmerksamkeit verdient das sogenannte „Vorgesicht", ein 
bis zum Schauen oder mindestens deutlichem Hören gesteigertes Ahnungs¬ 
vermögen, ganz dem 8eLonck sight der Hochschotten ähnlich und hier so 
gewöhnlich, daß, obwohl die Gabe als eine höchst unglückliche eher geheim 
gehalten wird, man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft und 
im Grunde fast kein Eingeborener sich gänzlich davon freisprechen dürfte. 
Der Vorschauer (Vorkieker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich 
an seinem hellblonden Haare, dem geisterhaften Blitze der wasserblauen 
Augen und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe; übrigens ist er 
meistens gesund und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt uub ohne 
eine Spur von Überspannung. Seine Gabe überkommt ihn zu jeder Tages¬ 
zeit, am häufigsten jedoch in Mondnächten, wo er plötzlich erwacht und 
von fieberischer Unruhe ins Freie oder ans Fenster getrieben wird; dieser 
Drang ist so stark, daß ihm kaum jemand widersteht, obwohl jeder weiß, 
daß das Übel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, bis zum völligen 
Entbehren der Nachtruhe gesteigert wird, wogegen fortgesetzter Widerstand 
es allmählich abnehmen und endlich ganz verschwinden läßt. 
Der Vorschauer sieht Leichenzüge, lange Heereskolonnen und Kämpfe, 
er sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fechtenden, 
beschreibt genau ihre fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte 
in fremder Sprache, die er verstümmelt wiedergibt und die vielleicht erst 
lange nach seinem Tode auf demselben Flecke wirklich gesprochen werden. 
Auch unbedeutende Begebenheiten muß der Vorschauer unter gleicher Be¬ 
ängstigung sehen, zum Beispiel eiuen Erntewagen, der nach vielleicht 
zwanzig Jahren auf diesem Hofe umfallen wird; er beschreibt genau die 
Gestalt und Kleidung der jetzt noch ungeborenen Dienstboten, die ihn auf- 
zurichten suchen; die Abzeichen des Fohlens oder Kalbes, das erschreckt 
zur Seite springt und in eine jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube füllt. 
— Napoleon grollte noch in der Kriegsschule zu Brienne mit seinem be¬ 
engten Geschicke, als das Volk schon von „silbernen Reitern" sprach mit 
silbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen „ein langer, schwarzer Pferde¬ 
schweif" flatterte, sowie von wunderlich aufgeputztem Gesindel, das auf 
„Pferden wie Katzen" (ein üblicher Ausdruck für kleine zottige Rosse) über 
Hecken und Zäune fliege, in der Hand eine lange Stange mit eisernem 
Stachel daran. Ein längst verstorbener Gutsbesitzer hat viele dieser Ge¬ 
sichte verzeichnet, und es ist höchst anziehend, sie mit manchem späteren 
entsprechenden Begebnisse zu vergleichen. Der minder Begabte und nicht 
bis zum Schauen Gesteigerte „hört": er hört den dumpfen Hammerschlag 
auf denl Sargdeckel und das Rollen des Leichenwagens, hört den Waffen¬ 
lärm, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der Rosse und den gleich¬ 
mäßigen Tritt der marschierenden Kolonnen. Er hört das Geschrei der 
Verunglückten und an Tür oder Fensterladen das Anpochen desjenigen, 
der ihn oder seinen Nachfolger zur Hilfe auffordern wird. Der Nicht- 
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35. Der Vater der Dichterin. 
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