Vorwort. 
Der letzte der drei Teile, in die gemäß den Verordnungen vom Jahr 1908 
das Heydtmannsche Lesebuch zerlegt werden mußte, erscheint erheblich später, als 
beabsichtigt und angekündigt war. Der unabsehbar reiche Stoff und die Schwierig¬ 
keit seiner Gliederung hat eine mehrmalige Umarbeitung nötig gemacht. Dabei 
mußte eine Menge wertvoller Stoffe nach schwerer Sorge fallen, wenn nicht Um¬ 
fang und Preis des Buches über das Maß des Zulässigen hinausgehen sollten. 
So ist denn von dem Inhalte des zweiten Heydtmannschen Bandes kaum ein 
Zehntel, von den in dem Vorwort zum ersten Band in Aussicht genommenen 
Abhandlungen nur eine beschränkte Zahl stehen geblieben. Dafür habe ich die 
Lebensurkunden unserer Dichter, soweit sie in Briefen und Erinnerungen nieder¬ 
gelegt sind, so ausgiebig als möglich herangezogen: wichtiger als theoretische Aus¬ 
führungen auch der genialsten Beobachter und Denker sind für unsere Zwecke Ein¬ 
blicke in die Werkstatt künstlerischen Schaffens, und in dieser Werkstatt spielen 
Grundlage und Entwicklung der Persönlichkeit eine bedeutsame Rolle. 
Mit der Gruppierung, die ich schließlich durchgeführt habe, bin ich selbst nicht 
durchweg zufrieden, würde es aber wohl auch mit keiner andern sein. Dagegen werden 
die Lehrer des Deutschen, denen es nicht anders gehen wird, in dem Buch, wie 
ich hoffe, die erforderlichen Bausteine finden, aus denen unter ihrer Leitung ihre 
Schülerinnen einen eigenen Tempel erbauen, über die Wandlungen und Fort¬ 
schritte unserer Dichtung und unserer Kultur, wie sie sich in der Dichtung spiegelt, 
sich eine persönliche Auffassung schaffen mögen. Bezüglich der meisten Gedichte 
mußte ich mich freilich auf einen im Jnhalsverzeichnis untergebrachten Hinweis 
auf die gebräuchlichsten Lesebücher begnügen. 
Den Maßstab für die Auswahl neuen Stoffes habe ich nach dem hohen 
Grade von Interesse und Verständnis gewählt, den die Schülerinnen der obersten 
Klasse des Seminars (und ohne Zweifel noch mehr die des künftigen P-Jahres) 
den großen Fragen und Aufgaben der Gegenwart entgegenbringen. Ebendarum 
habe ich meine Auslese bis zu den allerjüngsten Erscheinungen ausgedehnt. Wollte 
jemand mir die Befürchtung entgegenhalten, daß ich damit der Gefahr allzumoderner 
Geistesrichtung zuviel Spielraum gewährt hätte, so dürfte ich getrost auf die alten 
Herren hinweisen, die, abgesehen von den Volksliedern, den Abschluß des Ganzen 
bilden und die erst in ihrem Greisenalter ihre köstlichsten Schmuckstücke gesammelt 
oder ihre reifsten Werke hervorgebracht oder doch veröffentlicht haben. Daß mein 
Buch mit Wilhelm Wissers Grotmoder-Erzählungen und Rudolf Vogels Märchen- 
dichtung auf der einen und auf der andern Seite mit Karl Spittelers Olympischem 
Frühling abschließen darf, das betrachte ich als eine hohe Gottesgabe au unser 
Volk, als eine Verheißung, daß im weiteren Verlauf unseres nationalen Rinasci- 
mentos uns noch immer neue und hohe Ewigkeitswerte beschieden sein sollen. 
Unsere Schülerinnen aber, die Lehrerinnen eines kommenden Geschlechtes, 
müssen diesen künftigen Hervorbringungen unseres Werdeganges gerecht werden, sie 
müssen zu ihrem Erfassen und Aneignen einst ihre Zöglinge anleiten können, und 
darum muß ihr Auge auf die Zukunft eingestellt sein. 
Frankfurt a. M. am Tage der Friedensfeier 1911. 
E. Meller. 
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