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Zeit der Reife. Lyrik und Drama.
so ist's vielleicht, daß Gott im Traume
spürt,
er träume nur, und daß Erwachensdraug
im Morgenschlaf an seinem Traume
rührt.
i40 Und schlummert er vielleicht nun nimmer
lang? —
Du böser Geist, heran! Ich spotte dein!
Du Lügengeist! Ich lache unserm Bunde,
den nur der Schein geschlossen mit dem
Schein!
Hörst du? Wir sind getrennt von dieser
Stunde!
i45 Zu schwarz und bang,als daß ich wesenhaft,
bin ich ein Traum, entflatternd deiner
Haft!
Ich bin ein Traum mit Lust und Schuld
und Schmerz
und träume mir das Messer in das Herz!
Er ersticht sich.
Mephistopheles.
Nicht du und ich und unsere Verkettung,
i5o nur deine Flucht ist Traum und deine
Rettung!
Des wirst du bald und schrecklich dich
besinnen;
laß nur des Herzens Wellen erst verrinnen.
Ist erst der Strom des Blutes abgeflossen,
der brausend das Geheimnis übergössen,
kannst du hinunter schauen auf den Grund, 155
dann wird dein Wesen dir und meines
kund.
Mich wird man nicht so leichten Kaufes los.
Du töricht Kind, das sich gerettet glaubt,
weil's nun mit einmal sein geängstet Haupt
dem Alten meint zu stecken in den Schoß 160
und ihm den Knäul zu schieben in die Brust,
den's frech geschürzt, zu lösen nicht gewußt.
Er wird nicht Mein und Dein mit dir
vermischen,
das tote Glück dir wieder aufzufrischen.
Du warst von der Versöhnung nie so weit, i65
als da du wolltest mit der fieberheißen
Verzweiflungsglut vertilgen allen Streit,
dich, Welt und Gott in eins zusammen¬
schweißen.
Da bist du in die Arme mir gesprungen:
nun hab' ich dich und halte dich um¬
schlungen! 170
Lenau an seine Braut Marie Behrends.
Deutsche Rundschau 1889, Bd. 61.
Undatiert und nicht abgeschickt
Stuttgart (Oktober 1844).
5 Geliebte Braut!
Vernimm, was ich Dir hier eröffne, mit der ganzen Milde Deiner Seele,
damit Du mich weniger verdammen als bedauern könnest.
Sonntag den 29. September saß ich mit meinen geliebten und getreuen
Freunden Hofrat v. Reinbeck und seiner Gemahlin beim Frühstück. Still und in
10 mich gekehrt hing ich einem bekümmernden Gedanken nach, der sich bald zum hef¬
tigsten Affekte steigerte. Ich sprang und schrie auf, und im selben Augenblicke fuhr
mir ein ganz neues und fremdartiges Gefühl über mein Gesicht hin. An den
Spiegel tretend, sah ich meinen linken Mundwinkel verzerrt, die rechte Wange samt
dem Ohr war lahm und erstarrt, wie tot. Mein erster Ausruf war: „Mich hat
15 der Schlag getroffen!" und ich wiederholte ihn zu öfteren Malen. Meine Freunde
waren bestürzt und suchten, da sie sehen mochten, welchen Eindruck der Unfall aus
mich gemacht hatte, mir etwas anderes einzureden und den entsetzlichen Gedanken
in mir zu unterdrücken. Dieses gelang ihnen auch bis auf einen gewissen Grad;
denn meine Seele, bisher unablässig mit meiner Vermählungsangelegenheit be-
20 schästigt, wandte sich bald wieder zu dieser zurück und ließ jenen grausen Gedanken
betäubt in ihrem Hintergründe liegen. Doch später wachte er wieder auf, und be¬
stärkt durch mancherlei Anzeigen von außen wie durch meine eigenen Reflexionen
von innen, steigerte sich der Gedanke: „Mich hat der Schlag getroffen" zu immer