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Man kann es manchmal beklagen, daß ein Geist wie der Jakob Grimms 
die letzten vierzehn Jahre fast ganz diesem Werk widmete, das andere Hände, 
wenn auch nicht in allen Punkten wie er, ausführen konnten, es beklagen, 
daß darüber größere Pläne, die er sich vorgesteckt, unausgeführt blieben; 
und doch ist es auf der anderen Seite ein erhebender Gedanke, daß das edle 
Brüderpaar bis zum letzten Atemzuge an einem Werke schuf, das ein Stolz 
und ein Ruhm unseres Volkes ist. Nach Wilhelms Tode führte Jakob die 
Arbeit allein weiter, leitete den von Wilhelm gearbeiteten zweiten Band durch 
eine Vorrede ein, vollendete noch den dritten und war mitten im vierten, 
als der Tod ihn abrief. Das Wort „Frucht“ war das letzte, das er be— 
arbeitet hat. 
Versuchen wir Art und Charakter der Brüder uns am Schluß noch 
einmal zusammenfassend zu vergegenwärtigen. Beiden gemeinsam ist der feine 
dichterische Sinn, das tiefe Verständnis für das Wesen der Poesie. Aber bei 
Wilhelm ist es mehr eine rezeptive Fähigkeit, bei Jakob in hohem Grade 
produktive Begabung. Er ist eine urwüchsige Dichterkraft in hervorragendem 
Sinne. Diese Kraft zeigt sich in der wunderbaren Kombinationsgabe seines 
Geistes; denn in Kombination beruht auch das Wesen des eigentlichen dichte— 
rischen Schaffens. Wir nennen es auf dem Gebiete der Dichtung Phantasie, 
in der Wissenschaft Kombination, während wir unter Phantasie eine fast be— 
denkliche Eigenschaft in wissenschaftlichem Sinne verstehen. 
Liegt schon in dieser reichen Kombinationsgabe Jakob Grimms echte 
Poesie vor uns erschlossen, so zeigt diese poetische Gabe sich in gleicher 
Weise in seiner Sprache, die vom Zauber der Poesie getragen wird. Ihm 
stehen die tiefsinnigsten, originellsten Bilder zu Gebote wie nur einem echten 
Dichter. Er geht dem abstrakten Ausdruck gern aus dem Wege, er liebt das 
Sinnlichlebendige; seine Bilder wählt er mit besonderer Vorliebe aus dem 
Pflanzenleben, was vielleicht mit einer frühen Neigung zur Botanik zusammen— 
hängt; Blumen liebte er wie Wilhelm gern am Fenster seines Zimmers zu 
pflegen. Liebevoll dem Kleinsten sich zuwendend, gelangt er von ihm zu weit— 
tragender Betrachtung. Auch Wilhelms Sprache ist dichterisch, aber nicht von 
gleicher Kühnheit wie die Jakobs. Wilhelm war eine von edlem Maß 
beherrschte Natur eigen; kühnes Wagen war nicht seine Sache; Jakob rühmt 
an ihm das gemächliche Ausführen seiner Vorhaben, womit er, „wie anhaltende, 
gleichmäßige Schritte dennoch weit reichen“, ebenfalls zu seinem Ziele gelangte. 
„Kühnen und Wagenden“, sagt er an anderer Stelle, „teht ungesehen das 
Glück bei, plötzlich ist etwas geraten; Wilhelm mochte nie auf Geratewohl 
ausgehen.“ Jakob Grimm ist ein kühner Eroberer im Reiche des Geistes, 
siegreich vordringend in unentdeckte Länder. 
In einem aber gleichen sich beide ganz, in der reinen Liebe zum 
Vaterlande. Ihr Glaube an die Zukunft unseres Volkes war unerschütterlich. 
„Glocken brechen den Donner und verscheuchen das lange Unwetter“, sagt 
Jakob Grimm in der Rede auf Schiller. „Ach, könnte doch auch an hehren 
Festen alles fortgeläutet werden, was der Einheit unseres Volkes sich entgegen— 
stemmt, deren es bedarf und die es begehrt!“ Es war ihm nicht mehr 
beschieden, die Verwirklichung der Einheit Deutschlands zu schauen; wie hätte 
das schöne, milde Auge des Greises geglänzt bei dieser Kunde, die ihm eine 
Lebenshoffnung erfüllt hätte!
	        
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