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52. Friedrich Sebbel. 
Adolf Stern, Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart, Marburg (Elwert), 
1909, S. 81. Preis geb. 3 M.1 
Der hervorragendste und geistesmächtigste aller Dichter um die Mitte 
des 19. Jahrhunderts, seiner Phantasie und Gestaltungskraft, wie dem Ernste 
und der Tiefe seiner Kunstanschauung nach Hunderte von flüchtig auftauchenden 
und ebenso flüchtig wieder verschwindenden Talenten hinter sich lassend, war 
der Holsteiner (Dithmarsche) Friedrich Hebbel aus Wesselburen, ein lyrischer 
und dramatischer Poet vom Gepräge der Hölderlin und Heinrich von Kleist. 
Mit dem ersteren teilte der durch schwere Jugendschicksale hindurchgegangene 
Dichter die tiefe Sehnsucht nach der reinen Schönheit, einem seligen Atmen 
r Ather der erhöhten und beglückten Empfindung, eine Sehnsucht, deren 
Erfüllung ihm nur selten zuteil ward; mit Heinrich von Kleist den unbe— 
dingten und zu Zeiten grausamen Wahrheitsdrang, der bei Hebbel durch die 
Neigung für die dunkelsten Probleme des Weltlebens und der Menschennatur 
nur gesteigert werden konnte. Im Vergleiche mit den Tendenzpoeten zeichnete 
ihn ein tiefes Bewußtsein von den ursprünglichen und reinen Aufgaben der 
Poesie, die unbewußte Frömmigkeit des Gemüts, die von dem Wehen 
Göttlichen im Innersten ergriffen wird, dazu eine seltene ethische Strenge aus, 
die der Dichter bald gegen sich selbst, bald gegen seine Umgebungen kehrt. 
Losgelöst vom Glaubensleben, in dem Glücklichere und Schwächere Frieden 
und Versöhnung fanden, von grimmigen und finsteren Zweifeln gequält, die 
er mannhaft durchkämpfte, obschon er kaum auf Versöhnung hoffte, weit ent- 
fernt von der Welt- und Zeitvergötterung, die er in voller Blüte stehen sah, 
er in der Gegenwart die Zeit eines stummen Weltgerichtes, in dem 
die Form der Welt nicht in Wasserfluten und in Flammen, sondern in sich 
selbst zusammenbreche. Ihm fehlte das freudige Vertrauen in die Zukunft 
der Welt, in die Erhebung der Menschennatur über das ärmliche Bedürfnis 
und die niedrige Selbstsucht, ihm hinterließen die wechselnden Eindrücke des 
Lebens, auch die freudigen, immer schwere Rätsel, die er zu lösen rang; seine 
starke und im innersten Kern lautere Empfindung hätte so gern in der Mitte 
der Dinge verweilt, aber seine grüblerische Betrachtung trieb ihn immer 
wieder zum Anfang und zum Ende hin. Die Widersprüche und Schmerzen 
des Daseins empfindet der Dichter tiefer, dem sich über der Erde kein Himmel 
auf den er zuversichtlich hofft, und der doch von der tiefsten, unaus— 
löschlichen Ehrfurcht für ein Ewiges, Unerforschliches erfüllt bleibt. So 
Hebbel weit entfernt vom Einklange mit den lärmenden zeitgenössischen 
Bestrebungen, mußte in einsamer Hingebung an das, was er für poetisch und 
menschlich wahr, für künstlerisch notwendig erkannt hatte, seinen Weg ver— 
folgen und mochte selbst denen nicht völlig unrecht geben, die zwar anerkannten, 
daß in ihm die stärkste und eigentümlichste Dichterkraft der Zeit erschienen 
sei, aber in dieser Kraft die beglückende und siegreiche Anziehung mißten, 
die in besseren Tagen oft bei weit schwächeren Dichtern wirksam gewesen 
war. Der Lyriker Hebbel hatte freilich nicht nötig, sich auf die Gedanken— 
fülle und Ausdrucksmacht seiner Sonette und seiner Epigramme zu berufen. 
Den reinsten Ausdruck seiner Natur fand er in der kleinen Anzahl seiner 
lyrischen Gedichte, die die tieferen Stimmungen seines Inneren mit einer
	        
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