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v. Tschudi: Der Steinadler. 
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auf kurze Zeit. Er ist kühner, rüstiger und lebhafter als der Lämmer¬ 
geier, von dem er sich auch durch seinen hüpfenden Gang unterscheidet. 
Stunden lang scheint er in unermeßlicher Höhe am blauen Himmel zu 
hangen und ohne Flügelschlag in weiten Kreisen dahinzuschweben; 
Jäger wollen ihn über dem Gipfel des Wetterhorns und des Eigers, 
also in einer Höhe von mehr als 12000 Fuß schwebend gesehen haben. 
Mutig, kräftig, klug, scharfsichtig und von so feiner Witterung, daß er 
hierin kaum vom Kondor übertroffen wird, ist er zugleich außerordent¬ 
lich scheu und vorsichtig, meist einsam seiner Beute nachspähend, seltener 
auch mit seinem Weibchen. Sein helles „Pfülüf" oder „Hiä—hiä" 
klingt weit durch die Lüfte und erfüllt das kleinere Geflügel mit Schrecken. 
Wenn er sich seiner Beute nähert, stößt er oft ein „Kik—kak—kak" 
aus, senkt sich allmählich festen Blickes auf sein Opfer und stößt dann 
blitzschnell in schiefer Linie auf dasselbe. Keines unserer kleineren 
Tiere ist vor seiner Kralle sicher; Rehkülber, Hasen, wilde Gänse, Läm¬ 
mer, Ziegen, die er kühn vor Häusern und Ställen wegholt, Füchse, 
Dachse, Katzen, Feld- und Waldhühner, Hunde, Trappen, Störche, 
zahmes Geflügel, selbst Ratten, Maulwürfe und Mäuse sind ihm an¬ 
genehm, vorzüglich aber Hasen, die er seinen Jungen stundenweit mit 
ungeschwächter Kraft zuträgt. Den Vierfüßer rettet der flüchtigste Lauf 
nicht, eher den kleinen Vogel der hastige Flug. Der Adler setzt seine 
Jagd mit ebenso großer Beharrlichkeit als List fort und ermüdet das 
flinke Rebhuhn und die rasche Waldschnepfe durch fortgesetzte Verfol¬ 
gung. Oft jagt er dem Wanderfalken seine Taube, dem Habicht sein 
Haselhuhn ab. Er ist Herr des Reviers; kein Vogel, überhaupt kein 
Tier wird ihm gefährlich. Wo er einmal gute Beute gemacht, dahin 
kehrt er gern zurück. Er ist mutig und stark genug, um gelegentlich 
auch auf kleine Kinder zu schießen und sie wegzutragen. 
An den unzugänglichsten Felswänden und lieber im Innern des 
Hochgebirges als in den Vorbergen, in Deutschland gern in alten 
Kieferwäldern in der Nähe von Flüssen, baut er aus groben Prügeln, 
Stengeln, Heidekraut und Haaren einen roh gefügten, flachen Horst, 
den er in der Niederung zwischen den obersten Eichenästen, im Gebirge 
in einer überdachten Felsenspalte anlegt und mit 3 bis 4 weißen, braun 
gesprenkelten, sehr großen Eiern besetzt. Den Jungen bringen die 
Eltern allerlei Wild zu und zerfleischen es in anschaulicher Lehrweise 
vor ihren Augen am Rande des Nestes. Sie sollen ihnen sogar junge 
Reiher auf 3 bis 4 Meilen zutragen. Nicht selten gelingt es dem 
Jäger, die Nestvögel auszunehmen, welche sich leicht zähmen lassen, sehr 
gelehrig sind und mit Glück zur Jagd abgerichtet werden. In der 
Gefangenschaft kann der Steinadler ohne völlige Erschöpfung 4 bis 5 
Wochen lang hungern und soll 30, ja 100 Jahre darin dauern. 
Im Berner Oberlande ist das Dorf Eblingen am Brienzer See 
seiner Steinadlerjagd wegen berühmt. Etwa eine Stunde oberhalb 
dieses Dorfes ist in einer wilden Bergpartie ein merkwürdiger Sammel¬ 
platz und Lieblingsaufenthalt der Adler. Dort lieben sie einzelne un¬ 
zugängliche Felszinnen, von denen aus sie das Thal der Seeen be¬
	        
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