382 Neueste Geschichte. §. 540. 541.
Maßregeln bediente, zog sie dem ganzen Werke den Vorwurf der Heuchelei
und den Haß der Völker zu.
§. 54Ö. Während die Fürsten und Regierungen im Allgemeinen nach
unumschränkten (absoluten) monarchischen Formen strebten, gingen die
Wünsche der Völker auf Begründung konstitutioneller Verfassungen. Rad?
dieser aus Englands freiem Boden erwachsenen Staatsform steht dem durch
Abgeordnete repräsentirten Volke das Recht ber Steuerbewilli¬
gung, Einsicht in den Staatshaushalt und die Theilnahme an der Ge-
j etzge bun g zu. Da in der Repräsentativ-Verfassimg zugleich die Würde des
Königthums und die Freiheit und Rechte der Völker gewahrt waren, so schien
diese Form die würdigste Einrichtung für gebildete Staaten. Das Haupt-
bestreben der europäischen Völker ging daher auf Begründung oder Erweite-
rung dieser constitutionellen Staatsformen, und die öffentliche Lebensthätigkeit
war fast ausschließlich dem Verfassungswesen und innern Staatsleben zuge-
wendet. Es bildeten sich zwei mächtige Parteien, wovon die Einen (bald
Aristokraten, bald Konservative, bald Servile genannt) dem Volke
möglichst wenige, die Andern (Demokraten, Liberale, oder, wenn sie
das Aeußerste anstrebten, Radicale genannt) demselben möglichst viele
Rechte eingeräumt wünschten, und während jene die Einführung Constitution
netter Staatsformen nach Kräften zu hindern, ober, wo fie eingeführt waren,
sie aus jebe Weise ber demokratischen Bestandteile zu entkleiden suchten, ging
das Streben der letztern auf Begründung und Fortentwickelung des conftitu-
tionellen Lebens und auf Mehrung der' Volksrechte. Mit jenen waren im
Allgemeinen die Regierungen, daher die Liberalen die Opposition bilde¬
ten. Von den fünf europäischen Großmächten besaßen nur England und
Frankreich ein constitutionelles Staatswesen, Rußland, Oester-
reich und Preußen dagegen hielten die monarchische Unbeschränktheit
fest. In Deutschland, Italien und der pyrenäischen Halbinsel dreht sich die
neueste Geschichte hauptsächlich um die Verfassungskämpfe, durch welche bald
das eine, bald das andere Staatsprincip die Oberhand bekam.
8. Frankreich.
§. 541. In diesem tieferschütterten Reiche trat unter der Restauration
ein merkwürdiger Umschwung in der Denkweise und Gesinnung ein. Die
Partei der eifrigsten Royalisten (Ultra's, von ihren Gegnern als „weiße
jacotnner" bezeichnet) erlangte fo sehr bie Oberhanb, baß ber König mit mit
Mühe das constitutionelle Staatsgrunbgesetz(E harte) aufrecht erhalten
konnte. An bie Stelle ber freigeiftigen, firchcnfeinblichen Gesinnung früherer
Tage trat eine fanatisch-religiöse Gläubigkeit, bie, verbunben mit bem glühenb-
@ sten Royalismus, Gräuel hervorrief, welche bie blutigsten Auftritte ber Revo-
1815. lutionszeit überboten. In Marseille, Toulon, Nimes, Toulouse u. a. O. fielen
rasenbe unb fanatifirte Pöbelfchaaren über bie als Protestanten, Rapoleotiisten
ober Republikaner bekannten Einwohner her unb mordeten sie zu Hunderten
auf grauenhafte Weife. In Avignon erschossen sie beti Marschall Brune im
Gasthause unb warfen feine Leiche in bie Rhone; in Toulouse fiel General
Rantel als ein Opfer ber Volkswuth, iitbem er bett Unfug ber Royaliften
zu bärttpfen suchte. Morb, Plünberung unb Branb waren an der Tagesorb-
1820! ltung. Die Ermorbung bes Herzogs von Berry, besjenigeu könig-
lichen Reff.it, auf bem bie ganze Hoffnung ber Bourbonen ruhte, butch Lou-
vel, ein:n politischen Schwärmer, forberte bas Streben ber Reactionspartei,
an bereu Spitze ber Graf von Artois unb bie Herzogin von Angouleme
stauben. Der König sah sich genöthigt, bas gemäßigte Ministerium Decazes