384
IV. 39. Lazarus:
18
zuweilen alle, Gebildete mit einer solchen Sicherheit darin übereinstimmen,
dies sei taktmäßig oder taktlos gehandelt. Andererseits wird es doch wiederum
fraglich, ob diese Regeln des Takts etwas Selbständiges und Eigentümliches
sind, ob sie nicht vielmehr mit den Regeln der Sittlichkeit gänzlich zusammen¬
fallen. Es fragt sich, ob nicht die Regeln des Takts bloße Anwendung des
Sittengesetzes seien, die nur durch genaueres Eindringen in die jedesmaligen
Verhältnisse geschärft und verfeinert, sich davon absondert. Diese Frage wird
um so dringlicher, wenn wir uns erinnern, daß nicht bloß von einem sitt¬
lichen, sondern ebenso von einem künstlerischen, einem kritischen u. s. w. Takt
geredet wird. Nähme man nun an, der Inhalt des Takts bestände in ge¬
wissen abgesonderten und für sich bestehenden Vorschriften, so müßte es neben
einem jeden Lehrgebäude von Ideen und Regeln jeder Art von geistiger
Thätigkeit gleichsam noch einen Anbau geben, welcher die Regeln des be¬
treffenden Taktes enthielte; eine Konsequenz, welche wenig Schein hat.
Wir entziehen uns vor der Hand diesen aus der allgemeinen Betrachtung
unwillkürlich emporwachsenden Fragen, welche den umfragten Gegenstand nur
in das Licht des Zweifels rücken, und wenden uns zur Betrachtung des Fak¬
tischen. Zunächst fassen wir den Takt par 6xc6ll6nc6, den des praktischen
und sittlichen Lebens, ins Auge. — Schon Aristoteles spricht in seiner Ethik
bei der Aufzählung aller sittlichen Tugenden von dreien geselligen Tugenden.
Der Gegenstand der ersten dieser drei Tugenden ist: das Vergnügen und die
Unlust, welche wir den Personen, mit welchen wir umgehen, durch unser Be¬
nehmen bereiten. Zwischen Wohldienerei, Schmeichelei und Allgesälligkeit aus
der einen, und Streitsucht, Eigensinn und Ungeselligkeit auf der anderen Seite
steht diejenige Tugend, nach welcher wir an sich immer geneigt sind, anderen
Vergnügen zu machen, uud uns scheuen, Unlust bei ihnen zu erwecken,
dennoch aber im Umgänge nur denjenigen Wünschen und Meinungen anderer
beistimmen, die wirklich unseren Beifall verdienen, und Diejenigen verwerfen,
die wir für falsch und unrecht erkennen. Der in diesen: Sinne Tugendhafte
„wird ferner mit Personen von Stande anders, als mit dem ersten besten
aus dem großen Haufen, anders mit guten Bekannten als mit Fremden um¬
gehen. Und so wird er sich nach allen anderen Verschiedenheiten der Um¬
stände in seinem gesellschaftlichen Betragen richten, und jedem dasjenige ge¬
währen, was er von ihm billigerweise verlangen kann." — Die zweite Tugend
des Umgangs zeigt sich in Absicht der Wahrheit oder Unwahrheit dessen, was
wir durch unsere Reden, Handlungen und unser ganzes äußeres Benehmen
anderen von uns beizubringen suchen. „Sie liegt ebenfalls in einer Mitte
zwischen zweien Untugenden, und zwar zwischen Prahlerei, Aufschneiderei und
Anmaßung aus der einen, und falscher Bescheidenheit und verstellter Demut