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Bescheidenheit.
Es giebt einen edleren Stolz, von dem man wünschen muß, daß er das
Eigenthum eines jeden Menschen wäre. Er gehet aus dem Gefühl unserer
Würde hervor, und diese beruht wieder auf dem Bewußtsein eines durchaus
guten Willens und edler Bestrebungen. Wer einzig und allein das Rechte
will, und im Guten lebt und webt, erscheint in feinen eignen Augen achtungs¬
würdig, und wird empört, wenn ihm das Laster zumuthet, die Bahn dessel¬
ben zu betreten. Er ist zu stolz, um sich zu dem herabzulassen, was niedrig
und unsittlich ist. Ein solcher Stolz sei auch dir eigen, liebe Amanda! Fühle
es stets, daß der Mensch zum Höheren geboren sei; und wirst du zu Hand¬
lungen gereizt, die deine Vernunft und dein Gewissen nicht billigen können,
so rege sich in dir jener edlere Stolz, der alles verachtet, was ungerecht und
böse ist.
Uebrigens gleiche dem Veilchen, das in stiller Bescheidenheit blüht, und
Wohlgeruch um sich her verbreitet. Man verträgt es schon bei einem Manne
nicht leicht, wenn er sich zu sehr hervordrängt, aus seine Kraft und Wissen¬
schaft pocht, und es daraus anlegt, sich bemerkbar zu machen. Bei dem
weiblichen Geschlechte findet man so etlvas noch unverzeihlicher; hier erwar¬
tet man immer edle Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit. Die Frauen sind
nicht dazu bestimmt, Aussehen zu erregen; eine stille Wirksamkeit hat ihnen
die Vorsehung angewiesen; geräuschlos und bescheiden sollen sie ihren Lebens¬
pfad fortwandeln. Sie verlieren dabei nicht das Geringste. Denn ihr be¬
scheidnes, anspruchsloses Wesen ist eine Perle mehr in dem Kranze der Schön¬
heit, mit welchem sie die Natur zu schmücken pflegt. Ihre Liebenswürdigkeit
erhält gerade durch einen edlern, bescheidnern Sinn einen großen Zusatz, da
hingegen Unbescheidenheit und Uebermuth ihr ganzes Wesen entstellt, und
ihrer Herrschaft über die Herzen der Menschen ungemeinen Eintrag thut.
Sei daher bescheiden in deinen Reden und Urtheilen, meine Tochter! So
wenig ich stumme Mädchen liebe, die in gesellschaftlichen Kreisen an dem
Gespräche keinen Antheil nehmen, so sehr sind mir diejenigen zuwider, die
sich ein vorlautes Wesen angewöhnt haben, immer nur allein sprechen, und
dadurch das Vorurtheil von sich erregen wollen, als besäßen sie eine ausge¬
zeichnete Bildung des Geistes. Sind sie vollends keck und unvorsichtig in
ihren Urtheilen über Andere, so verdienen sie mit Recht den Tadel, den sie
sich in der Regel zuziehen. Wüßten dergleichen unbescheidene Frauenzimmer,
welche üble Eindrücke sie gewöhnlich durch ihr anspruchsvolles Wesen auf
Andere machen, und wie nachtheilig sie deshalb beurtheilt iverden, sie wür¬
den — schon ihres eignen Vortheils wegen — behutsamer und bescheidner
in ihren Reden und Urtheilen sein. Nichts ist häßlicher in der That, als ein
sich vordrängendes, schnippisches Mädchen!
Du, liebe Amande, wandle auch in dieser Hinsicht die Mittelstraße.
Nimm Antheil an allen geselligen Unterhaltungen, sprich und urtheile unbe¬
fangen, und belebe dadurch das Gespräch, aber sei nie vorlaut, urtheile nie
über Dinge, die du nicht gründlich verstehst, und bist du in Gesellschaft von