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Menge einzelner dichterischen Schönheiten haben kann, ist damit
nicht ausgeschlossen. Auch ist es begreiflich, daß es Dichter von
so universaler Begabung wie Göthe und Nückert in ihrem Alter
drängt, den reichen Schatz ihrer Lebenserfahrungen in Lehr¬
dichtungen niederzulegen, wie dies Rückert in unübertrefflicher
Weise in seiner „Weisheit des Vrahmanen" gethan hat.
Das Gefühl kann aber auch aufgeregt werden durch die Außen¬
welt, durch Vorgänge in der-Natur und in der menschlichen Ge¬
sellschaft. Ueberschwemmungen, Erdbeben und andere Naturerschei¬
nungen können ebenso wie Heldenthaten, edle und unedle Aeuße¬
rungen der menschlichen Thätigkeit das Gefühl ergreifen und ein
Gedicht erzeugen. Solche Gedichte heißen epische Dichtungen.
An die Wahrheit braucht sich der Dichter nicht zu halten. Er
kann die Thatsache nach Gefallen anders darstellen oder auch nicht
Geschehenes erfinden; nur muß er auf das Gefühl seiner Leser
angenehm einwirken und dasselbe für seine Darstellung interessiren.
Dazu gehört aber, daß die Erzählung innere Wahrheit habe, d. i.
daß kein innerer Widerspruch darin sei. Erzählt er z. B. die Hand¬
lung eines Helden, so darf er denselben nicht bald sapfer, bald feig
erscheinen lassen, weil sich Feigheit nicht mit dem Charakter eines
Helden verträgt. Dagegen kann er das ganze Reich der Zauberei zu
Hilfe nehmen, Hexen, Feen, Nixen, Engel und Teufel auftreten und
Thiere sprechen lassen, nur muß kein barer Unsinn darin herrschen,
weil dieser immer einen unangenehmen Eindruck hervorbringt.
Die dramatischen Gedichte stellen Handlungen dar, wäh¬
rend die epische Poesie Begebenheiten vorträgt. Wenn der epische
Dichter nur erzählt, was geschehen sei, so läßt der dramatische
Dichter die Handlung vor den Augen der Zuschauer geschehen.
Diese sehen, wie die Handlung, die vorgestellt werden soll, entsteht,
wie sie fortgeht, und wie sie sich endigt, als wenn die handelnden
Personen noch lebten und mit einander verkehrten. Ein zweiter
Unterschied ist der, daß es bei der epischen Poesie der Dichter ist,
welcher zu uns spricht; in der dramatischen Poesie dagegen ge¬
wahren wir vom Dichter nichts, sondern es sind handelnde Per¬
sonen, die er sprechen läßt. Eine dritte Eigenschaft des Drama's
ist, daß es für die Bühne berechnet ist. Es soll zwar jedes
dramatische Gedicht auch beim Lesen einen angenehmen Eindruck
machen, aber dieser Eindruck wird durch das Aufführen auf der