142
Zur Litteraturgeschichte.
heiraten — in der gewissen Zuversicht, daß es beim Anbruch des Morgens
hier auf der Burg viel anders sein werde als jetzt am Abend. Als Herwig
und Ortwin zu dem Heere zurückkehren und die Schmach verkündigen, welche
Gudrun so lange Jahre hindurch ist angethan worden, erheben die Helden
laute Klage, aber der alte Wate heißt sie, auf andere Weise der Königs¬
tochter dienen: die Kleider rot färben, die sie weiß gewaschen. Noch in der
Nacht — die Luft ist heiter, der Himmel weithin helle im glänzenden Mond¬
schein — soll der Sturm auf die Normannenburg begonnen werden. Noch
steht der Morgenstern hoch am Himmel, da schauet eine der Gefährtinnen
der Gudrun durch das Fenster, und nach der See hin leuchtet das ganze
Gefilde vom hellen Waffenglanz, von Stahlhemden und lichten Schilden; und
alsbald ruft auch der Wächter hoch von der Zinne: „Wohlauf, Ihr stolzen
Recken, Waffen, Herren, Waffen; Ihr Normannenhelden, auf, Ihr habt zu
lange geschlafen." Der Kampf beginnt; tapfer fechtend füllt der Normannen¬
könig Ludwig unter Herwigs Streichen; die iible Gerlind will dafür Gudrun
erschlagen haben, und schon ist das Schwert über ihrem Haupte gezückt, als
Hartniut, welcher von unten der grimmen Mutter mörderische Absicht gewahrt,
edelmütig dem Verbrechen wehrt. Hartmut wird gefangen, und der zornige
Wate dringt in das Frauengemnch, die verdiente Rache an Gerlind zu
nehmen; Gudrun verleugnet sie, gleich edelmütig, wie Hartmut sie selbst
vom Tode errettet hat; aber Wate weiß doch die Rechte zu finden und schlägt
ihr so wie einer Dienerin Gudruns, die sich als Peinigerin ihrer eigenen
Herrin vordem der grausamen Königin Dank verdienen wollte, das Haupt
ab; „er wisse", sagt er, „wie man Frauen ziehen müsse; dafür sei er
Kämmerer." Darauf folgt die Heimfahrt, Sühne und dreifache Vermählung:
zwischen Herwig und Gudrun, zwischen dem Normannenkönig Hartmut
und Hildburg, einer der Gefährtinnen der Gudrun, nud zwischen Ortwin,
Gudruns Bruder, und Ortrun, der normannischen Königstochter, der einzigen,
die im fremden Lande Mitleid mit Gudrun gehabt und ihr tröstlich bei¬
gestanden hatte in ihrer tiefen Schmach.
4. Das höfische Cpos.
von Anton <£. Schö'nbach: Walther von der vogelweide. 8. 96 fl.
Das deutsche höfische Epos hat nicht gleich den alten Dichtungen der
Heldensage seine Wurzeln im Volke, ans fremdem Boden ist es aufgesproßt,
es hat auch nicht wie der Minnesang eine volkstümliche Vorstufe, höchstens
in Bezug auf die Form, da die vierhebigen Reimpaare für poetische
Erzählungen schon lange im Gebrauch waren. Ähnlich der geistlichen Prosa und
Poesie des deutschen Mittelalters entlehnt auch das höfische Epos seine Stoffe
der französischen Bildung, übersetzt und bearbeitet die Romane, welche in