Full text: Deutsches Lesebuch für die Obersekunda der höheren Lehranstalten

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Zur Litteraturgeschichte. 
heiraten — in der gewissen Zuversicht, daß es beim Anbruch des Morgens 
hier auf der Burg viel anders sein werde als jetzt am Abend. Als Herwig 
und Ortwin zu dem Heere zurückkehren und die Schmach verkündigen, welche 
Gudrun so lange Jahre hindurch ist angethan worden, erheben die Helden 
laute Klage, aber der alte Wate heißt sie, auf andere Weise der Königs¬ 
tochter dienen: die Kleider rot färben, die sie weiß gewaschen. Noch in der 
Nacht — die Luft ist heiter, der Himmel weithin helle im glänzenden Mond¬ 
schein — soll der Sturm auf die Normannenburg begonnen werden. Noch 
steht der Morgenstern hoch am Himmel, da schauet eine der Gefährtinnen 
der Gudrun durch das Fenster, und nach der See hin leuchtet das ganze 
Gefilde vom hellen Waffenglanz, von Stahlhemden und lichten Schilden; und 
alsbald ruft auch der Wächter hoch von der Zinne: „Wohlauf, Ihr stolzen 
Recken, Waffen, Herren, Waffen; Ihr Normannenhelden, auf, Ihr habt zu 
lange geschlafen." Der Kampf beginnt; tapfer fechtend füllt der Normannen¬ 
könig Ludwig unter Herwigs Streichen; die iible Gerlind will dafür Gudrun 
erschlagen haben, und schon ist das Schwert über ihrem Haupte gezückt, als 
Hartniut, welcher von unten der grimmen Mutter mörderische Absicht gewahrt, 
edelmütig dem Verbrechen wehrt. Hartmut wird gefangen, und der zornige 
Wate dringt in das Frauengemnch, die verdiente Rache an Gerlind zu 
nehmen; Gudrun verleugnet sie, gleich edelmütig, wie Hartmut sie selbst 
vom Tode errettet hat; aber Wate weiß doch die Rechte zu finden und schlägt 
ihr so wie einer Dienerin Gudruns, die sich als Peinigerin ihrer eigenen 
Herrin vordem der grausamen Königin Dank verdienen wollte, das Haupt 
ab; „er wisse", sagt er, „wie man Frauen ziehen müsse; dafür sei er 
Kämmerer." Darauf folgt die Heimfahrt, Sühne und dreifache Vermählung: 
zwischen Herwig und Gudrun, zwischen dem Normannenkönig Hartmut 
und Hildburg, einer der Gefährtinnen der Gudrun, nud zwischen Ortwin, 
Gudruns Bruder, und Ortrun, der normannischen Königstochter, der einzigen, 
die im fremden Lande Mitleid mit Gudrun gehabt und ihr tröstlich bei¬ 
gestanden hatte in ihrer tiefen Schmach. 
4. Das höfische Cpos. 
von Anton <£. Schö'nbach: Walther von der vogelweide. 8. 96 fl. 
Das deutsche höfische Epos hat nicht gleich den alten Dichtungen der 
Heldensage seine Wurzeln im Volke, ans fremdem Boden ist es aufgesproßt, 
es hat auch nicht wie der Minnesang eine volkstümliche Vorstufe, höchstens 
in Bezug auf die Form, da die vierhebigen Reimpaare für poetische 
Erzählungen schon lange im Gebrauch waren. Ähnlich der geistlichen Prosa und 
Poesie des deutschen Mittelalters entlehnt auch das höfische Epos seine Stoffe 
der französischen Bildung, übersetzt und bearbeitet die Romane, welche in
	        
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